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BILANZ EINER REVOLUTION (V)


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Bilanz einer Revolution (V)
Die Wirtschaftsdebatte und der Prinzipienkampf in der bolschewistischen Partei von 1923 bis 1928
Die Krise von 1927 bis 1928 und die Auflösung der NEP
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Bilanz einer Revolution

Die Wirtschaftsdebatte und der Prinzipienkampf in der bolschewistischen Partei von 1923 bis 1928

Die explosiven Widersprüche der russischen Wirtschaft und Gesellschaft, die unter der kriminellen Wirtschaftsblockade durch die Weltbourgeoisie litt, mussten sich zwangsläufig innerhalb der Partei, in ihrem inneren Leben äussern. Jedem entspricht eine Parteikrise, zunächst 1923, dann 1925 und 1927–28. Der Kampf war immer sehr heftig, und es ist nicht immer einfach, die Divergenzen, die auf Prinzipienfragen beruhten, von denjenigen zu unterscheiden, die eine nur zweitrangige Bedeutung hatten. Bis 1928 scheint sich der Kampf auf eine liberale Rechte, deren Theoretiker Bucharin war, und eine dirigistische Linke, deren Theoretiker Trotzki und Preobraschenski waren, zu begrenzen, zwischen denen ein von Stalin repräsentiertes Zentrum laviert. Seit 1925 bekämpfen sich Rechte und Linke allerdings nicht mehr nur wegen Fragen der praktischen Wirtschaftspolitik, sondern auch wegen einer Prinzipienfrage, nämlich ob es möglich sei, den Sozialismus in einem Land aufzubauen; von dieser Frage hängt in der Tat die ganze Orientierung der Partei und damit des russischen Staates im Hinblick auf den internationalen Klassenkampf ab und ebenso die ganze Orientierung der Kommunistischen Internationale selbst, in der die russische Partei den vorwiegenden Einfluss hat. Da sich die liberale Rechte im Lager der Anhänger des »Sozialismus in einem Lande« befand, während die dirigistische Linke die Positionen des Internationalismus vertrat, konnte es bis 1928 scheinen, dass dieselbe Klassengrenze, die Nationalkommunismus und Internationalismus trennte, auch zwischen dem Dirigismus von Trotzki-Preobraschenski und dem Liberalismus Bucharins verlief. Die russischen Militanten waren von dieser falschen Überzeugung so eingenommen, bzw. die Linke glaubte so fest daran, im Bucharin’schen Liberalismus die Hauptgefahr und den Inbegriff des antiproletarischen Opportunismus erkannt zu haben, dass, als Stalin 1928 seine »Linkswende« in der Frage der praktischen ökonomischen Politik vollzog (ohne deshalb auf prinzipieller Ebene auch nur im geringsten von seinem Nationalkommunismus abzuweichen), der grösste Teil der Militanten der Vereinigten linken Opposition den Augenblick für gekommen sah, sich den Stalinisten anzuschliessen – als erster gar Preobraschenski, dessen Programm Stalin im Grunde durchführen wird. Zur Ehre Trotzkis muss man festhalten, dass er nicht kapitulierte.

Die Krise von 1923 war im Gegensatz zur späteren Krise von 1928 eine »Wachstumskrise«. Eine Wiederbelebung der Städte war durchaus festzustellen, und die Industrieproduktion, obwohl sie kaum 40 % ihres Umfanges von 1913 überstieg, hatte immerhin 46 % gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Der Anteil der Staatsindustrie an dieser Erhöhung lag weit zurück hinter dem des Handwerks und der Privatbetriebe, die in der Leichtindustrie vorherrschten; diese Privatbetriebe hatte der Arbeiterstaat, der nicht in der Lage war, alles zu verwalten, was er nationalisiert hatte, Privatleuten in Pacht gegeben. Aus diesen Wachstumszahlen ergab sich, dass die Schwerindustrie im Rückstand lag; die Betriebe der Schwerindustrie waren in Staatshänden geblieben und traten auf dem Rohstoff-, Arbeits- und allgemeinen Warenmarkt als selbständige Betriebe mit eigener Bilanz und Gewinnmarge auf, d. h. sie waren als kapitalistische Betriebe organisiert; der Unterschied zum Privatsektor bestand darin, dass ihr Profit dem Arbeiterstaat zufloss, der somit über ökonomische Ressourcen verfügte, die er mindestens theoretisch für Klassenzwecke verwenden konnte; das erklärt auch, warum die Bolschewiki diese Betriebe trotz ihrer ökonomischen Merkmale als »sozialistisch« bezeichneten. Trotz dieser missverständlichen Terminologie der russischen Kommunisten soll die Stärkung der privaten Pachtindustrie nicht als eine Stärkung des Kapitalismus im Vergleich zu einem nicht vorhandenen Sozialismus betrachtet werden: Sie bedeutete dennoch eine Gefahr, denn dadurch erweiterte sich ein unkontrollierbarer Wirtschaftssektor gegenüber dem einzigen Sektor, der eine gewisse Kontrolle erlaubte.

Durch die Erhöhung der Industriepreise wurden jedoch privater wie staatlicher Sektor mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre allgemeinen Kosten zu senken. Das führte zur Schliessung wenig rentabler Betriebe zum Zweck einer Reorganisierung sowie zu einer Stagnation der Löhne. Die Arbeitslosenzahl stieg von 500 000 Ende 1922 auf 1 250 000 im Sommer 1923, während »rote Industrielle« und Kader der Staatsindustrie einen Druck auf die Arbeiter ausübten, um eine Erhöhung ihrer Produktionsanstrengungen zu erreichen, was zu einer Beunruhigung der Gewerkschaften führte. Wenn man die Kurve der Agrarpreise, die auf durchschnittlich 50 % ihrer Vorkriegshöhe stagnierten, mit den Industriepreisen vergleicht, die 180 bis 190 % der Vorkriegshöhe erreichten, hat man das, was Trotzki auf dem XII. Parteikongress als »Scherenkrise« anprangerte; dieses Auseinanderklaffen stellte eine direkte Gefahr für die Entwicklung der Landwirtschaft dar. In dem Masse, in dem der Bauer dadurch eines Teiles des Produkts seiner Arbeit beraubt wurde, bedrohte es auch das politische Bündnis von Arbeiterklasse und Bauernschaft. Um beide »Scherenhälften« zu schliessen schlug Trotzki vor, die NEP einer Korrektur zu unterziehen durch eine Unterstützung der Industrie und die Ausarbeitung eines Wirtschaftsplans zur Förderung der Wiederbelebung der Schwerindustrie. Die Mehrheit des Zentralkomitees beschloss im Gegenteil die unveränderte Fortsetzung der NEP im Sinne des Interessenausgleichs mit der Bauernschaft, wofür einerseits die Steuerlast der Bauernschaft verringert und andererseits eine Senkung der Industriepreise befohlen wurden; für eine bessere Ausrüstung der Industrie wurde lediglich ein Exportzuwachs vorgesehen, während die Entwicklung der Schwerindustrie auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurde[153].

In Wirklichkeit gab es auf dem XII. Kongress noch keinen Konflikt über die Wirtschaftsfrage innerhalb der bolschewistischen Partei, und es ist auch nicht die beschlossene Aufrechterhaltung des Status quo im Hinblick auf diese Frage, was Trotzki in die Opposition führen wird. Hier ging es um die viel wesentlichere Frage einer drohenden Entartung der Partei, die seit Februar 1923 sowohl von Bucharin, der später in Wirtschaftssachen »rechts« stehen wird, als auch von Preobraschenski und vielen anderen, die in dieser Beziehung als »links« betrachtet werden, angeprangert wurde – genau wie Lenin es vor seiner Krankheit getan hatte. Diese Front von 1923 war nicht zufällig: Alles gesunde und lebendige was es in der Partei gab, richtete sich gegen den von Stalin und seinen Methoden dargestellten Fremdkörper auf, mit welchem sich alte Genossen Lenins wie Sinowjew und Kamenew zu ihrem Unglück leider verbündeten. Wie die inneren Kämpfe zwischen »Rechten« und »Linken« in der Folge auch ausfallen mögen, welchen Eindruck das persönliche Scheitern der Militanten bei der grossen Wende von 1928 auch hervorrufen mag, so darf man nicht vergessen, dass man im leider ergebnislosen Versuch eines Bündnisses von Bucharin und Trotzki zur Zeit der »Liquidierung der NEP« dieselbe Einreihung der marxistischen Partei gegen den stalinistischen Nationalkommunismus wieder finden wird.

Trotzki geht im Oktober 1923 in die Opposition[154] und schreibt seit dem bis Dezember den berühmten »Neuen Kurs«; diese Schrift widmet sich zwar nicht direkt der Wirtschaftspolitik, sie enthält aber die Positionen, die Preobraschenski in Abwesenheit von Trotzki im Namen der Opposition auf der XIII. Konferenz (Januar 1924) vertreten wird; die Stalinisten[155] und Kamenew setzen sich mit Preobraschenski auseinander, wobei es offensichtlich ist, dass ihre Motivation nicht in der ökonomischen Frage liegt. Trotzki ahnte wahrscheinlich bereits, welches Ausmass die gegen ihn entfesselte demagogische Kampagne annehmen würde, und so zeigt er im »Neuen Kurs« zunächst, dass er als erster den Vorschlag unterbreitete, »auf dem Land zur Neuen ökonomischen Politik« überzugehen und dass dieser damalige Vorschlag mit einem anderen zusammenhing, »der sich auf die Neuorganisation der Industrie bezog und weit ungenauer und vorsichtiger war, sich aber im Wesentlichen gegen das zentralistische Regime richtete[156], das sämtliche Verbindungen zwischen der Industrie und der Landwirtschaft zerstörte«. Es handelt sich also weder darum, »die Bauernschaft zu unterschätzen«, noch darum, der Industrie eine Rückkehr zum Kriegskommunismus aufzuzwingen:

»Die wichtigste ökonomische Aufgabe besteht heute darin, eine wechselseitige Beziehung zwischen der Industrie und der Landwirtschaft herzustellen – und wenn möglich auch innerhalb der Industrie selbst – die es der Industrie gestattet, sich mit möglichst wenig Krisen, Stössen und Erschütterungen zu entwickeln, und die der Staatsindustrie und dem staatlichen Handel ein Übergewicht über das Privatkapital gibt […] Welche Methoden muss man anwenden, um die nötige Wechselbeziehung zwischen Stadt und Land, zwischen dem Transportwesen, dem Finanzwesen und der Industrie, zwischen der Industrie und dem Handel herzustellen? Welche Behörden sollen diese Methoden anwenden? Welche sind schliesslich die konkreten statistischen Daten, nach denen man jeweils die vernünftigsten wirtschaftlichen Pläne und Berechnungen erstellen kann? Alle diese Fragen lassen sich offensichtlich nicht durch irgendeine allgemeine politische Formel im Voraus lösen […] Sind das prinzipielle, programmatische Fragen? Nein, denn weder das Programm noch die theoretische Tradition der Partei haben uns in dieser Beziehung gebunden; und sie konnten das auch gar nicht tun, da die notwendige Erfahrung und ihre Verallgemeinerung fehlten. Ist die praktische Bedeutung dieser Fragen gross? Unermesslich. Von ihrer richtigen Lösung hängt das Schicksal der Revolution ab. […] Das Geschwätz über die Unterschätzung der Bauernschaft muss aufhören. Notwendig ist jetzt die Preissenkung der für die Bauern bestimmten Waren.«

»Der Neue Kurs« ist Bestandteil des energischen Kampfes von Trotzki in Verteidigung der Partei. In dem Zusammenhang, mit dem wir uns hier beschäftigen, ist es jedoch von Bedeutung, von prinzipieller Bedeutung, dass Trotzki hier erkennt, dass man sich bei der Bestimmung der Wirtschaftspolitik auf keine Prinzipien stützen konnte, sowie dass alle diesbezüglichen Fragen nicht die sozialistische Umgestaltung der russischen Wirtschaft und Gesellschaft betrafen, sondern die Bedingungen für die Erhaltung der Sowjetmacht. Durch seinen Kampf gegen die Bucharin’sche Rechte bedingt, wird Trotzki später diese zwei Punkte leider vergessen. Was die Industrialisierung angeht, so zeigt Trotzki im »Neuen Kurs«, dass »die Behauptung vollkommen unsinnig ist, die Frage beschränke sich auf das Entwicklungstempo und werde fast schon durch das ›Temperament‹ entschieden. Tatsächlich geht es um die Richtung der Entwicklung.« Und in dieser Beziehung stellt er sehr massvolle Forderungen: Mit den Improvisationen aufhören; sich bemühen, für die Staatsindustrie einen Wirtschaftsplan auszuarbeiten, der den materiellen Voraussetzungen und Ressourcen entspricht, wobei zu berücksichtigen ist, dass »man den bäuerlichen Markt nicht im Voraus genau berechnen kann und auch den Weltmarkt nicht«, und dass allein schon wegen der unterschiedlichen Ernten »Einschätzungsfehler unvermeidlich sind«; man soll sich nicht einbilden, dass die verschiedenen Staatsindustrien und das Transportwesen zu Beginn des dritten Jahres der NEP Gewinn bringen[157], sondern vielmehr versuchen, durch eine Rationalisierung der Staatsindustrie die Verluste im Vergleich zum zweiten NEP-Jahr zu verringern; kurz, man sollte handeln, um die Gefahr einer Verschmelzung der anarchischen Bauernwirtschaft mit dem Privatkapital zu bannen: Des Privatkapital »macht noch einmal die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation zuerst auf dem Gebiet des Handels und dann in der Industrie« und neigt dazu, sich zwischen den Arbeiterstaat und der Bauernschaft zu schieben, einen zunächst ökonomischen und dann politischen Einfluss über die Bauernschaft zu gewinnen, worin man eine ernste Warnung vor der Gefahr eines Sieges der Konterrevolution erblicken müsste. So gross die Bedeutung ist, die Trotzki »einer richtigen Organisierung der Arbeit durch unsere Planungskommission (Gosplan)« für die »Lösung der Probleme des Bündnisses von Stadt und Land – und zwar nicht durch die Aufhebung des Marktes, sondern auf seiner Grundlage« beimisst, so ausdrücklich erklärt er auch, »dass die Frage in keiner Weise durch die Existenz von Gosplan erschöpft ist«, bzw. dass es »Dutzende von Faktoren und Voraussetzungen gibt, von denen der Gang der Industrie und der gesamten Wirtschaft abhängt«. Aber, schreibt Trotzki, »eine richtige Berechnung dieser Faktoren und Voraussetzungen und eine entsprechende Organisierung all unserer Aktivitäten kann nur durch das Vorhandensein eines starken […] Gosplan verwirklicht werden«. Abschliessend erklärt er, dass die Partei den Aufbau der Landwirtschaft weniger direkt durch direkte Intervention des Staates, als vielmehr indirekt, durch den Aufbau der Industrie beeinflussen kann:

»Der Arbeiterstaat muss dem Bauern sowohl mit landwirtschaftlichen Krediten (soweit die Mittel reichen!) zu Hilfe kommen, als auch durch eine agronomische Hilfe, die es den Produkten der Landwirtschaft, wie Weizen, Butter und Fleisch erleichtert, auf den Weltmarkt zu gelangen. Die Beeinflussung der Landwirtschaft wird allerdings grossenteils durch die Industrie erleichtert […] Man muss dem Dorf erschwingliche Landwirtschaftsmaschinen und Geräte zur Verfügung stellen, man muss ihm Kunstdünger geben, man muss ihm billige Gebrauchsgegenstände für den bäuerlichen Haushalt geben. Andererseits, um den landwirtschaftlichen Kredit zu organisieren und zu entwickeln, benötigt der Staat bedeutende Umlaufmittel. Zu diesem Zweck muss man erreichen, dass die staatliche Industrie rentabel wird, was seinerseits wieder unmöglich ist ohne eine richtige Übereinstimmung ihrer Bestandteile.«

Wie Lenin, so verbindet auch Trotzki seine vorsichtigen ökonomischen Überlegungen immer wieder mit der internationalen Frage:

»Wenn die konterrevolutionäre Gefahr aus bestimmten sozialen Beziehungen erwächst, schliesst das keineswegs aus, dass man diese Gefahr durch eine bewusst geplante Politik – auch unter Voraussetzungen, die für die Revolution ungünstig sind – vermindern, verzögern und hinausschieben kann. Eine derartige Verzögerung kann aber ihrerseits die Revolution retten […], indem sie entweder im Land eine günstige ökonomische Wendung bringt, oder ein Bündnis mit der siegreichen Revolution in Europa

Es gibt allerdings einen schwachen Punkt in der Position Trotzkis, einen einzigen. Er stellt fest, dass die »Kulaken, Zwischenhändler, Aufkäufer, Pächter« durchaus in der Lage sind, den Staatsapparat unter ihren Einfluss zu bringen, den proletarischen Charakter des Staates zu bedrohen; nun scheint Trotzki zu glauben, dass durch die Wiederbelebung der Staatsindustrie (die aber schliesslich auf kapitalistischer Basis betrieben wird) günstige Voraussetzungen entstehen werden, damit die Partei im Kampf um den Staatsapparat gegen all diese bürgerlichen Schichten erfolgreich führen kann, bzw. damit sie die Erfolge der Staatsindustrie zu einem Anziehungspol für neue proletarische Kräfte machen kann, um durch diesen Kräftezuschuss den bedrohten proletarischen Charakter des Staates zu retten. Wenn er die Frage der Konterevolution stellt, so ist es immer die Frage, »auf welchen politischen Wegen der Sieg der Konterrevolution eintreten konnte«, wenn sich die Hypothese eines ökonomischen Sieges des Privatkapitalismus über den Staatskapitalismus erfüllen sollte. Dann würde es mehrere Möglichkeiten geben: »Entweder einfach der Sturz der Arbeiterpartei; oder ihre allmähliche Degeneration, oder schliesslich die Verbindung ihrer teilweisen Degeneration mit Spaltungen und konterrevolutionären Umwälzungen.« Trotzki erwähnt zwar ausdrücklich die Gefahren, die aus einer Verschmelzung des Partei- und des Staatsapparates, bzw. aus der Einführung von Verwaltungsmethoden in die Partei, deren inneres Leben dadurch ernsthaft beeinträchtigt wird, resultieren; er warnt zwar ausdrücklich davor (»Gerade diese Gefahr ist heute am ausgeprägtesten, direktesten und deutlichsten. Der Kampf gegen die übrigen Gefahren muss unter den heutigen Voraussetzungen mit dem Kampf gegen den Bürokratismus beginnen«) doch scheint er völlig zu übersehen, dass die Entwicklung der Staatsindustrie diese Gefahr nicht verringern, sondern vermehren würde; er folgert im Gegenteil, dass »der Kampf gegen den Bürokratismus des Staatsapparates eine ausserordentlich wichtige, aber langwierige Aufgabe ist, die mehr oder weniger mit anderen wesentlichen Aufgaben gleichzeitig in Angriff genommen werden muss; zu diesen Aufgaben zählen der wirtschaftliche Aufbau und die Hebung des kulturellen Niveaus der Massen.« So gross der Mut des Militanten ist, der die Schwierigkeiten nur aufzeigt und vor den Gefahren nur warnt, um sie besser bekämpfen zu können, so schmerzlich geht doch der unlösbare Charakter der Widersprüche, in denen die russische Revolution infolge des Rückzugs des europäischen Proletariats gefangen war, aus dem ganzen Text hervor.

Auf der XIII. Konferenz im Januar 1924 verfocht die Linke, durch Preobraschenski vertreten, diese Wirtschaftsplattform und forderte vor allem eine Gesundung des innerparteilichen Lebens; sie erlitt eine totale Niederlage[158]. Wirklicher Gegenstand der Debatten war in der Tat keineswegs die Frage der Wirtschaftspolitik; dazu äusserten sich die Stalinisten nur, um mit billiger Ironie vor den »Bürokratisierungsgefahren« zu warnen, die der von Trotzki geforderte Wirtschaftsplan für die UdSSR bedeuten würde (!). Die Parteifrage stand im Mittelpunkt, und mit ihr befasste sich auch das Hauptreferat, das von Stalin gehalten wurde. Darin wurde der Opposition vorgeworfen, »den Schwerpunkt des Kampfes gegen die Bürokratie vom Staat in die Partei selbst verlagert« und die Losung der »Zerstörung des Parteiapparates« gegeben zu haben; die Opposition wird als Vertreterin einer »Preisgabe des Leninismus, die objektiv den Druck der Kleinbourgeoisie widerspiegelt« verurteilt. Es ging also nicht um einen Kampf zwischen zwei Parteiflügeln, die eine jeweils verschiedene Wirtschaftspolitik vertreten; es ging im Gegenteil lediglich um die Mobilisierung von zwielichtigen Kräften (die übrigens sehr bald ihre wahre Natur verraten sollten), nicht um Prinzipien, sondern gegen bestimmte Personen (Trotzki an erster Stelle), wobei sich die Führungsfraktion keineswegs durch die Überzeugungskraft ihrer Argumente behauptete, sondern durch Repressionsdrohungen und die völlig leere Beschwörung des Namens von Lenin, aus dessen krankheitsbedingter Abwesenheit allein die Stalinisten den Mut schöpften, die Parteitraditionen in einer solchen Form zu schlagen und zu zerstören.

Der Sieg der Gegner der Linken von 1923 konnte selbstverständlich nicht verhindern, dass die objektiven Widersprüche der NEP ausbrächen; diese hatten sich keineswegs gemildert, sondern im Gegenteil infolge der ökonomischen Entwicklung verschärft. So stellte 1925 eine neue Krise alle Fragen des Jahres 1923 wieder auf die Tagesordnung und führte zu einer erneuten Wirtschaftsdebatte innerhalb der Partei. Diese Debatte wurde umso heftiger, als sie nicht mehr allein die Fragen der praktischen Wirtschaftspolitik betraf, sondern eine viel höhere prinzipielle und programmatische Frage, eine Frage, von der die Zukunft der Sowjetmacht als proletarische Macht, ihre Beziehungen zu dem internationalen proletarischen Kampf und die Richtung ihres Einflusses auf die Kommunistische Internationale abhingen. Es handelte sich in der Tat um zwei Auseinandersetzungen verschiedener Natur, die sich jedoch zwangsläufig miteinander verstrickten. Eine Auseinandersetzung betraf die Frage der Industrialisierung und der Beziehungen zur russischen Bauernschaft und stellte eine Linke und eine Rechte einander gegenüber; die andere, die ominöse Frage des Sozialismus in einem Land, polarisierte auf der einen Seite die Linke, auf der anderen eine täuschende Koalition der Rechten und eines Zentrums, dessen wirkliche Natur und wahre Bedeutung allen Akteuren des Dramas erst zu spät klar wurden. Heute, vierzig Jahre später, müssen wir jedoch beide Debatten sorgfältig auseinanderhalten und vor allem die ganze Auseinandersetzung von den Vorurteilen freimachen, die die damaligen Militanten hegten und die die Geschichte zerstört hat.

Von 1923 bis 1925 hatte sich die industrielle und landwirtschaftliche Produktion wiederbelebt, das Transportwesen war reorganisiert worden, Austausch und Handel hatten sich verstärkt. Das Kernproblem der NEP, nämlich die Beziehungen zwischen proletarischer Macht und Bauernschaft, stellte sich jedoch wieder: Eine Bauernrebellion griff seit dem Sommer 1924 in Georgien um sich, und 1925 gingen die Getreidelieferungen wieder zurück (und zwar in einem solchen Umfang, dass es eine Versorgungskrise in den Städten gab und die Staatsindustrie gezwungen wurde, ihre Importaufträge, die man ja mit den Erlösen des Agrarexports bezahlen wollte, zu streichen). Auf die Dauer gab sich die Bauernschaft mit den bereits gemachten Konzessionen, wie Abschaffung des Kriegskommunismus und Wiedereinführung der Freiheit des Handels, nicht zufrieden. Sie übte Druck auf den Staat aus, um eine Steuersenkung und eine Erhöhung der Agrarpreise durchzusetzen, was die kommunistische Macht bis dahin nicht hatte bewilligen wollen, und zwar einerseits aus Sorge um die Industrialisierung, andererseits um den Lebensstandard der Industriearbeiter zu schützen, der nach wie vor unter dem von 1913 lag. Noch gravierender war allerdings die Forderung der »reichen Bauern«[159]; sie wollten eine Aufhebung der Gesetze, die die Beschäftigung von Lohnarbeitern in der Landwirtschaft und die Verpachtung von Land verboten, bzw. im allgemeinen eine Streichung aller Massnahmen, die die wohlhabenden Bauern trafen, wie höhere Steuer, Ausschluss vom Wahlrecht usw., weswegen die mittleren Bauern aus Furcht, in diese höhere Kategorie eingestuft zu werden, davon absahen, ihre Höfe auch nur geringfügig zu verbessern.

Die erste Reaktion der Partei auf diese Situation waren die Beschlüsse der XIV. Konferenz vom April 1925; alle waren damit einverstanden, im Rahmen der NEP einen weiteren Rückzug zu machen (Verringerung der Bodenertragssteuer, Erleichterung der Restriktionen hinsichtlich der Beschäftigung von Lohnarbeitern und der Verpachtung, kurzum hinsichtlich der Entwicklung eines Privatkapitals auf dem Lande[160]).

Erst hinterher – und angesichts der Folgen und Begleiterscheinungen dieses Rückzuges – ereignete sich der Bruch im Lager der gestern noch Verbündeten Gegner der Linken von 1923, welche sich in eine Rechte (Bucharin, Tomski, Rykow), eine neue Linke (Sinowjew, Kamenew und die gesamte Leningrader Sektion der Partei) und ein Zentrum (Stalin, Molotow, Kalinin) spalteten. Man kann jedoch die wahre Bedeutung dieser Gegensätze nur verstehen, wenn man sie auf die früheren Parteipositionen gegenüber der Bauernschaft bezieht. In der Phase des Bürgerkrieges war die militärische und politische Frage wichtiger als die ökonomische gewesen, und die Partei hatte sich demzufolge auf die natürlichen Verbündete des Fabrikproletariats, auf die Dorfarmut, die Reservelosen gestützt, deren Komitees eine wichtige Rolle bei der Errichtung der Roten Armee gespielt hatten. Der Übergang zur NEP hatte Lenin dazu verleitet, den Akzent auf den mittleren Bauern zu verschieben, dessen Wirtschaft etwas weniger armselig als die des armen Bauern war, der aber andererseits im Gegensatz zum reichen Bauer kein Ausbeuter fremder Arbeitskraft und kein Spekulant war und somit der proletarischen Macht nicht a priori feindselig gegenüberstand. Es war daher nur allzu natürlich, dass Lenin in einer Periode des wirtschaftlichen Wiederaufbaus seine genaue Charakterisierung der kleinbürgerlichen Natur und der kleinbürgerlichen Mängel des mittleren Bauern mit dessen »beeindruckender Verteidigung« verband, um der Partei klarzumachen, dass die Versorgung der Städte gänzlich von dieser Gesellschaftsschicht abhing.

Es ging noch ganz und gar nicht um die Frage, auf den Kampf gegen die Kulaken als Wucherer, Spekulanten und darüber hinaus virtuelle Anhänger einer Restauration des Regimes der Konstituante, zu verzichten. Höchstens infolge seiner Eigenschaft als Produzent unentbehrlicher Lebensmittel verdiente der Kulake, Lenin zufolge, eine weniger harte Behandlung als die, die der städtischen Bourgeoisie zuteil geworden war.

1925, nach vier Jahren Toleranz gegenüber dem mittleren Bauern und Einschränkung der Kulakenwirtschaft, wurde das Modell überhaupt in Frage gestellt, und zwar nicht durch eine Strömung, sondern durch die Tatsachen selbst, denn der »genossenschaftliche Kapitalismus«[161], auf den Lenin so grosse Hoffnungen (nicht von Sozialismus, sondern von Modernisierung der Landwirtschaft) gesetzt hatte, war wegen der schwachen industriellen Entwicklung um keinen Schritt vorangekommen. Die Rechte war die Strömung, die aus den Tatsachen die Konsequenzen zog und kühn von der Politik der Unterstützung des mittleren Bauern zu einer Politik der Begünstigung der privatkapitalistischen Entwicklung auf dem Lande überging; die Linke widersetzte sich heftig dieser Wendung und betrachtete die frühere Politik der Einschränkung der Kulakenwirtschaft, des staatlichen Schutzes der ärmeren Bauernschichten vor der kulakischen Ausbeutung und Wucherei und der wirtschaftlichen Unterstützung dieser Dorfarmut durch die proletarische Macht als unantastbar; was das Zentrum angeht, so kennzeichnete es sich nicht durch eine besondere Position zu dieser Frage: In dieser Beziehung akzeptierte es die Politik der Rechten aus Sorge um den Bestand der Staatsmacht und verurteilte gleichzeitig jede offenkundigere Ermunterung der ländlichen Bourgeoisie aus kleinbürgerlichem Antikapitalismus und formellem Orthodoxie gehabe. Das Zentrum erstickte die ganze Debatte in eklektischen Formeln, unterstützte die Politik der Rechten im Namen der Prinzipien der vorhergehenden Phase (Bündnis mit dem mittleren Bauern) und spielte nach allen Seiten die Rolle des »Versöhnlers«, während es in Wirklichkeit die »Säuberung« der Partei von ihren zwei marxistischen Flügeln und damit die Vernichtung der Partei vorbereitete. Wir lassen also das Zentrum für einen Augenblick beiseite[162], um uns mit der Frage zu beschäftigen, ob die Opposition zwischen Rechten und Linken wirklich eine Opposition zwischen »Industrialisierungsanhängern« und »Industrialisierungsgegnern«, bzw. wie die Linke glaubte und erklärte, eine Opposition zwischen einer »Pro-Kulak-Strömung« und einer rein proletarischen Strömung war.

In Wirklichkeit gab es in der russischen Partei keinen Gegner der Industrialisierung. Jedermann wusste sehr genau, dass die Industrialisierung eine unentbehrliche Voraussetzung für die Entwicklung und die Konzentration der Landwirtschaft darstellte, sowie (allerdings in unterschiedlichem Masse) eine Gefahr für die Diktatur des Proletariats in sich barg, denn sie musste sich zwangsläufig auf der Grundlage der Lohnarbeit und der Akkumulation des Kapitals vollziehen. Die Auseinandersetzung betraf nicht die Notwendigkeit der Industrialisierung, sondern deren Wege. Für die trotzkistische Linke von 1923 war die Industrialisierung im Wesentlichen vom Staatswillen und vom Beschluss, eine bestimmte Industrialisierungspolitik zu befolgen, abhängig. Es war kein Zufall, wenn sich Sinowjew und Kamenew 1925 dieser Position anschlossen, sondern stand vielmehr in vollkommener Übereinstimmung mit ihrem Widerstand gegen eine Wendung, die sie als »zum Vorteil des Kulaken« betrachteten. Für die Rechte war die Industrialisierung im Gegenteil zugleich Resultat und Bedingung einer organischen Entwicklung der Landwirtschaft. Ausgehend von der Feststellung, dass die erste Entwicklung der Industrie einerseits einer Ausdehnung der Industrieproduktion selbst, andererseits der Bereicherung der mit dem Handel beschäftigten Gesellschaftsschichten dient[163], anstatt einer Entwicklung der Landwirtschaft zugute zu kommen, folgerte Bucharin, dass die Arbeitermacht es der ländlichen Kleinbourgeoisie erlauben sollte, das für eine Rentabilitätserhöhung unentbehrliche Betriebskapital selbst zu akkumulieren. Das wäre allerdings nicht möglich, wenn die Beschäftigung von Lohnarbeitern auf dem Lande weiterhin illegal bliebe und die Partei auf einer Politik der Fürsorge für die ärmeren Schichten weiter bestünde, die diese Schichten nicht aus dem Elend herauszureissen vermochte, aus ihnen aber ökonomische parasitäre Schichten machte. Bucharins Kompromiss war in Wirklichkeit ein »Kompromiss à la Lenin«: Da auf dem Lande der direkte Übergang von der kleinen Parzellenwirtschaft zum Staatskapitalismus unmöglich war, musste man seiner Meinung nach einen indirekten vermittels des Privatkapitalismus – in Kauf nehmen: da die ganze Entwicklung, einschliesslich die der Staatsindustrie, dazu verurteilt war, sich auf der Grundlage der Warenproduktion und der Lohnarbeit zu vollziehen, lag darin ebensowenig wie in der NEP von 1921 ein Verzicht auf den Sozialismus.

Empört durch die provozierende Losung von Bucharin: »Bauern, bereichert Euch«, die keineswegs bedeutete: »fresst noch mehr auf Kosten des Proletariats«, sondern akkumuliert das Agrarkapital, das unsere Wirtschaft braucht, um die Stagnation zu überwinden, denn wir sind dazu nicht in der Lage, warf die Linke der Bucharin’schen Rechten vor, das Kulakentum zu schützen. Da die Rechte niemals eine Abschaffung der Nationalisierung des Grund und Bodens vertreten hat, förderte sie in Wirklichkeit keineswegs die Bildung einer Klasse von kapitalistischen Grossgrundbesitzern sondern lediglich die Bildung einer Klasse von grossen Staatspächtern, die unter Staatskontrolle Lohnarbeiter beschäftigen würde, um später, bei Erreichung der erforderlichen Konzentrationsstufe des landwirtschaftlichen Kapitals, selbst enteignet zu werden. Der Vorwurf der Linken ist insofern wissenschaftlich unhaltbar – obwohl die Linke durchaus auf der Linie der marxistischen Tradition stand – als sie unter Berufung auf Engels Bucharin entgegenhielt, dass das Proletariat zwar ein Gegner des Kleineigentums ist, in der Agrarfrage jedoch eine Politik verfolgt, die sich von der kapitalistischen Politik unterscheidet, die ja die kleinen Bauern ganz einfach in den Ruin treibt und mittellos dem Elend und dem Dahinvegetieren preisgibt[164]. Es wäre der Rechten bestimmt nicht schwergefallen, auf diese zutreffende Entgegnung theoretisch zu antworten, und zwar mit dem Hinweis, dass die proletarische Macht den zum Lohnarbeiter gewordenen armen Bauer nicht anders schützen würde als die Lohnarbeiter der Industrie. In der Praxis konnte sie jedoch nicht darauf antworten, denn die Arbeitermacht war nicht in der Lage, diesen Schutz gegen die Ausquetschung durch den Kulaken wirklich zu leisten – und das ist auch der Grund, weshalb die Linke sich niemals der Wirtschaftsplattform der Rechten annäherte und nicht einmal ihre Gültigkeit vom marxistischen Standpunkt aus erkannte.

Es ist uns heute nicht möglich, in der Wirtschaftspolitik der Rechten eine Politik der »Restauration des Kapitalismus« und der »sozialdemokratischen Entartung« des Staates zu erkennen, wie es die Linke in den Jahren 1925–27 behauptete; es ist uns gleichwohl nicht möglich, in der Wirtschaftspolitik der Linken eine Linie zu erkennen, die, wäre die politische Niederlage nicht eingetreten, ohne Abweichungen in Richtung auf den Sozialismus geführt hätte. Dafür spricht die geschichtliche Tatsache, dass die Verwandlung der doppelten Revolution in eine rein kapitalistische Revolution nicht von der Rechten geführt wurde; dies ist aber nicht der einzige Grund: Die Rechte hatte bis zu einem gewissen Punkt jenen besonderen Typus der »Restauration des Kapitalismus« vorausgesehen und von Anfang an zu bekämpfen versucht, einen Typus, der sich dann in Form einer Linkswendung wirklich ereignete und dessen Folgen sich für die kommunistische Weltbewegung als noch verheerender erwiesen, als die hypothetischen Folgen einer menschewistischen und sozialrevolutionären Restauration. Am deutlichsten geht das aus der Debatte von 1925 hervor, in der sich einerseits der Führer der Rechten, Bucharin, andererseits ein Mitglied der Opposition von 1923, der »Trotzkist« Preobraschenski, engagierten, während sich Trotzki selbst nicht äusserte.

Die »linke« These des »Industrialisierungsanhängers« Preobraschenski besteht in folgendem[165]: Die Ökonomie eines rückständigen und isolierten Landes (oder selbst einer Gruppe von Ländern, die die höchste kapitalistische Entwicklung noch nicht erreicht haben), wo die proletarische Macht eine nationalisierte Industrie leitet und für die Schaffung der materiellen Grundlagen des Sozialismus wirkt, wird von objektiven Gesetzen beherrscht, die – ob man will oder nicht – sich schliesslich der Staatsmacht doch aufzwingen werden; es handelt sich um die Gesetze der »ursprünglichen sozialistischen Akkumulation«. Die proletarische Partei soll nicht versuchen, diesen Gesetzen zu widerstehen, sondern deren Wirkung im Gegenteil durch geeignete politische Aktion fördern. Sie soll das »sozialistische Monopol« (d. h. die Staatshoheit über Industrie und Aussenhandel) benutzen, um durch eine geeignete Preispolitik die Mittel, die normalerweise von der Bauernschaft eingenommen würden, in den Industrialisierungsfonds des Staates zu kanalisieren; nur so würde sie sowohl der »Erpressung durch die Kulaken« als auch der ländlichen Überbevölkerung ein Ende setzen können. Dieser Ressourcentransfer würde jedoch allein nicht ausreichen, um den kritischen Punkt schnell zu überwinden, der dadurch entsteht, dass das Land nach der Revolution die Vorteile des Kapitalismus verliert, jedoch noch nicht in den Genuss der Vorteile des Sozialismus gekommen ist; so durfte das »sozialistische Monopol« auch nicht zögern, den Lohnfonds und die Einnahmen des privaten Industriesektors in ähnlicher Form heranzuziehen, um den Industrialisierungsfonds des Staates zu vergrössern. Preobraschenski schätzte, dass diese Phase der »ursprünglichen sozialistischen Akkumulation« im Falle eines revolutionären Sieges in Europa mindestens zwanzig Jahre dauern würde (bei Ausbleiben dieses Sieges also noch länger), und er verschwieg nicht, dass sie von deutlich antisozialistischen Folgen begleitet werden würde: Ausbeutung (im ökonomischen, nicht im moralisierenden Sinn des Wortes) der Bauernschaft, deren Einkünfte seiner Meinung nach unter der Diktatur des Proletariats langsamer wachsen sollten als die der Arbeiter; Entfaltung eines riesigen monopolistischen Apparats mit parasitären Tendenzen, der ausserdem einen Herd sozialer Privilegien darstellen würde. Dennoch forderte er die Partei auf, die Ausflüchte der Rechten beiseite zu Lassen und diesen Weg entschlossen einzuschlagen, denn er war überzeugt, dass die Arbeiterklasse von der Sphäre des Verbrauchs aus handeln könnte, um den parasitären Tendenzen, die auf der Ebene der Produktion erscheinen würden, erfolgreich Einhalt zu gebieten. Preobraschenski fiel nicht ein, dass ein so verstandenes »sozialistisches Monopol« sich mit keiner Form von »proletarischem Handeln« vereinbaren liesse, und dass die Partei, um diesen Weg einzuschlagen, vorher aufhören müsste, die proletarische Partei zu sein.

Bucharin bezeichnete das vermeintliche Gesetz der »ursprünglichen sozialistischen Akkumulation« rundweg als »monströs«, denn es war nur ein Rechtfertigungsversuch für die Ausbeutung nicht nur der Bauernschaft sondern auch des Proletariats sowie für die Wiederentstehung einer neuen, in den Falten eines sozialistisch etikettierten Staatsapparates versteckten Ausbeuterklasse. Sollte es nur darum gehen, eine gegebene Produktion ein für alle Mal zwischen Arbeiter und Bauern zu verteilen, dann würde die »richtige Arbeiterpolitik«, wie er sagte, darin bestehen, den Höchstanteil zu erhalten.

»Dann ginge es aber nicht um die Frage, die Produktion zu erhöhen, zum Kommunismus fortzuschreiten, das Bündnis von Arbeitern und Bauern zu verteidigen. Die Verantwortung für die Nationalwirtschaft steht der Arbeiterklasse zu. Sie muss eine richtige Orientierung dieser Entwicklung sichern; sie darf daher einerseits nicht engen Zunftvorstellungen verfallen, nicht sich lediglich um die eigenen unmittelbaren Interessen sorgen und die allgemeinen Interessen verraten, andererseits muss sie die Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen Bestandteilen der Nationalwirtschaft richtig verstehen«
»Das Höchsttempo der industriellen Entwicklung kann man nicht dadurch erreichen, dass man der Bauernschaft Jahr für Jahr ein Höchstmass an Ressourcen entreisst, um sie in die Industrie zu stecken. Das kontinuierliche Höchsttempo wird man nur durch eine kombinierte Entwicklung erreichen, in der die Industrie auf der Grundlage einer schnell wachsenden Gesamtwirtschaft wächst.«

Der Hebel für eine radikale Transformation der Landwirtschaft ist die Industrie. Aber wenn man die Agrarpreise autoritär niedrig hält, wenn man die wohlhabende Bauernschicht an der Akkumulation hindert, wenn man die Verwandlung der armen Bauern in Landarbeiter, die sich für Lohn verdingen, verhindert, dann schafft man nicht nur Unzufriedenheit in allen Bauernschichten, bürdet man dem Staat nicht nur eine enorme Fürsorgelast auf, sondern man hemmt auch die Industrialisierung selbst. Das Proletariat muss seine Hegemonie im Sowjetstaat sicherstellen; die Lehre des Kriegskommunismus und die Bedeutung der NEP liegen aber darin, dass das Proletariat diese Hegemonie durch andere Methoden als jene im Bürgerkrieg angewandten ausüben muss. Das Proletariat kann nicht die gesamte Wirtschaft leiten:

»Sollte es diese Aufgabe übernehmen, dann müsste es einen kolossalen Verwaltungsapparat aufbauen […] Der Versuch, alle Kleinproduzenten und Kleinbauern durch Bürokraten zu ersetzen, erzeugt einen so kolossalen Apparat, dass die Ausgaben, ihn zu unterhalten, unvergleichlich grösser wären als die unproduktiven Ausgaben, die aus den anarchischen Verhältnissen der Kleinproduktion resultieren; um alles zu sagen: Als Ganzes erleichtert der ökonomische Apparat des proletarischen Staates keineswegs die Entwicklung der Produktivkräfte; er hemmt sie nur; er führt zum direkten Gegenteil dessen, was man von ihm erwartete.«

Bucharin folgerte, dass die Thesen von Preobraschenski nichts anderes darstellten als eine Idealisierung der Methoden des Kriegskommunismus, während das Proletariat in Wirklichkeit im Gegenteil »mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert wird, den gesamten ökonomischen Apparat des Staates zu zerstören, der aus jener Epoche übernommen wurde«; sollte das Proletariat das nicht tun, so würden »andere Kräfte die Herrschaft dieses Apparats stürzen«.

Dieser Verwaltungsapparat war aus der unwiderstehlichen, antibürgerlichen Oktoberrevolution entstanden; als Apparat des Staates hatte er an sich jedoch niemals irgendetwas »proletarisches« gehabt und konnte es auch nicht haben, denn die Macht der Arbeiterklasse verkörpert sich in ihrer Partei und nicht in einem beliebigen »Apparat«, und der Weg zum Sozialismus wird nicht durch eine Stärkung des erwähnten »Apparates«, sondern durch dessen Absterben begleitet. Kommen wir aber auf Bucharin zurück. Mehr als 25 Jahre sollten noch vergehen, bevor diese »anderen Kräfte« – die dem Proletariat und dem Sozialismus so feindlich gegenüber standen, wie er es befürchtet hatte – sich durch Chruschtschow und die übrige Bande der »Entstalinisierer« manifestierten, um ihrerseits den »staatlichen Wirtschaftsapparat« als »Bremse« für die »Entwicklung der Produktivkräfte« anzuprangern[166].

Keine zwei Jahre sollten jedoch vergehen, bis die Linke politisch liquidiert wurde, keine vier Jahre, bis die Rechte dasselbe Schicksal erlitt, also bis sich die Vernichtung der bolschewistischen Partei restlos vollzog. Diese Vernichtung begleitete den Umsturz der politischen Herrschaft des Proletariats; und hatte Bucharin diesen Umsturz nicht weniger als die Linke befürchtet, so hatte er dessen Vorbereitung und Durchführung im Laufe des Prinzipienkampfes um die Frage des »Sozialismus in einem Land« auf dem XIV. Parteitag vom Dezember 1925, auf der Erweiterten Exekutive vom Dezember 1926 und auf dem XV. Parteitag vom Dezember 1927 völlig übersehen – vielmehr, er hat sich dabei mit Schande bedeckt: er bildete einen Block mit dem Zentrum gegen die Linke und, was noch schlimmer ist, er kam als Theoretiker dem groben Empirismus eines Stalin zu Hilfe.

Die richtige marxistische Verurteilung des »Sozialismus in einem Land« musste zwangsläufig auf die von der Rechten verfochtene Wirtschaftspolitik abfärben, und die notwendige Unterscheidung zwischen der Theorie des Renegatentums einerseits und der »rechten« Politik andererseits wurde dadurch völlig verdrängt. Das war jedoch falsch, und es war eines der grossen Verdienste der italienischen Linke, dies gezeigt zu haben[167]. Die trotzkistische Linke erwartete von der Rechten die Konterrevolution, die sie nur allzu gut heraufziehen sah; die Rechte ihrerseits erkannte allein in der Linken die Gefahren, die die Revolution bedrohten. Nun, es war das Zentrum, das niemand je als eine eigenständige Strömung betrachtet hatte und das alle verachteten, das sich plötzlich »verselbständigte«, 1927 die Linke, 1929 die Rechte schlug (bevor es beide weniger als zehn Jahre später massakrierte) und der wahre Träger der Konterrevolution gewesen ist. Diese Konterrevolution, die zumindest in ihrer ersten Phase mit weniger Erschütterungen vor sich ging als die Konterrevolutionen, die in der Vergangenheit andere grosse geschichtliche Revolutionen ablösten, verbarg sich hinter der Fassade derselben Partei. In Wirklichkeit bedeutete jedoch die Verselbständigung des Zentrums gegenüber der marxistischen Rechten und der marxistischen Linken nichts anderes als die Entstehung einer neuen Partei und die Vernichtung der Partei des Oktobers. Auf internationaler Ebene äusserte sich das durch die Zerschlagung der allerdings vom Opportunismus schon ziemlich unterwanderten Kommunistischen Internationale bzw. durch ihre Herabsetzung auf die Rolle eines »Grenzschutzes« der UdSSR. Auch innenpolitisch änderte sich alles. Von einer ökonomischen Regression vom Sozialismus zum Kapitalismus kann man natürlich nicht reden, denn – wie das ganze Werk Lenins bestätigt – es gab in der UdSSR 1927 bis 1929 kein einziges Atom Sozialismus im rein ökonomischen Sinne des Wortes. Dennoch unterscheidet sich das stalinistische Regime deswegen nicht weniger krass vom bolschewistischen. So wird die Diktatur des Proletariats – natürlich nachdem sie vernichtet wurde und im Übrigen mit der sowjetischen Demokratie völlig verwechselt wird – aus einer stets bedrohten und leidenschaftlich verteidigten politischen Errungenschaft zu einem unantastbaren Verfassungs-Credo: In der UdSSR ist der Staat ein »Arbeiterstaat«, wie er woanders monarchisch oder republikanisch ist. So hört der Sozialismus auf, ein noch fernes Ziel (das aber gleichzeitig den Charakter einer genau umrissenen Wirklichkeit besitzt und damit nachweisbar ist, wenn sie geschichtlich auftritt) zu sein, um sich in eine Art Verfassungsartikel zu verwandeln; die UdSSR ist das »Vaterland des Sozialismus«, ergo ist ihre Wirtschaft sozialistisch: nicht anders ist die französische Wirtschaft französisch und die deutsche deutsch; für jeden Zweifel in dieser Beziehung ist die Polizei zuständig; Erscheinungen, die dagegen zu sprechen scheinen, sind das Produkt von Sabotage und Verschwörung. Und während diese erdrückende Litanei von den offiziellen kommunistischen Parteien in der ganzen Welt unter dem Namen »Marxismus-Leninismus« eifrig verbreitet wird, ging der Sowjetstaat weniger als zehn Jahre später daran, den Arbeitermassen Russlands und der ganzen Welt ein für alle Mal die »Wahrheit« zu zeigen: In Prozessen, die nach dem Muster der oben geschilderten Glaubenssätze geführt wurden, zeigte man die angesehensten alten Bolschewiki »in unwiderlegbarer Form« als Saboteure, Verschwörer und Agenten des ausländischen Imperialismus an.

Die Vernichtung des Bolschewismus eröffnete die dunkelste Phase der Reaktion, die je über die internationale proletarische Bewegung hereinbrach.

Die Krise von 1927 bis 1928 und die Auflösung der NEP

Die Beseitigung der vereinigten linken Opposition aus der bolschewistischen Partei 1927 und der Bucharin’schen Rechten im November 1929 läutete unbestreitbar den Abschluss des kurzen proletarischen Zyklus der Revolution ein, nicht aber den des revolutionären Zyklus selbst. Der Grund dafür ist einfach: Erstens genügte es nicht, die Revolutionäre zu verhaften, zu verbannen oder nach spektakulären »Abschwörungen« als Geiseln in der neuen Partei zu behalten, um die Bauernfrage zu lösen; zweitens implizierte die Ausrottung der Marxisten keineswegs einen Verzicht auf revolutionäre, sprich: nicht-friedliche Methoden, denn der Marxismus hat keineswegs die Gewalt für sich gepachtet. Durch die »Säuberung« der Partei wollte sich die Konterrevolution vom Joch der Prinzipien und des Programms des Kommunismus freimachen; das ist begreiflich, denn mit dem Abschluss der Wiederaufbauperiode wurden diese ja zu einer Bremse nicht nur für die kapitalistische Entwicklung des Landes, sondern auch für die Eroberung seiner Selbständigkeit gegenüber dem westlichen Kapitalismus, dessen Halbkolonie das zaristische Russland ja immer gewesen war; es versteht sich auch, dass diese Bremse als etwas Verhasstes empfunden wurde. Diese »Befreiung« musste sich aber keineswegs ausschliesslich in Richtung auf die Freisetzung von versöhnlerischen Tendenzen auswirken; nur auf dem Gebiet des internationalen Klassenkampfes – gerade das Gebiet, wo die Partei ursprünglich unnachgiebig gewesen war – musste sie natürlich ausschliesslich diese Richtung einschlagen. Es ist kein Zufall, wenn die Stalinisten keinen Militanten der Opposition mehr gehasst haben als Trotzki: Er war der einzige, der die Politik der Versöhnung mit der Weltbourgeoisie und der internationalen Sozialdemokratie bekämpfte, eine Politik, an die sich Sinowjew und Bucharin aus Opportunismus sehr leicht angepasst haben. Auf ökonomischem Gebiet haben wir mit dem genauen Gegenteil zu tun: Auf diesem Gebiet war die ursprüngliche Position der Partei die Position eines Kompromisses gewesen[168]. Kurzum, die Logik der stalinistischen Konterrevolution verlangte keineswegs den Übergang zur universellen Versöhnung, sondern lediglich die Umkehrung der authentischen bolschewistischen Positionen: Versöhnung in der internationalen Politik, hingegen »revolutionäre« Methode in der Innenpolitik, sofern die Aufrechterhaltung des Staates und die nationale Unabhängigkeit dies erforderten. Diese Logik ist heute leicht verständlich; damals musste sie aber unter den Kommunisten, die im Kampf gegen die einer anderen Logik entsprechende reformistische (und auch anarchosyndikalistische) Abweichung erzogen worden waren, grosse Verwirrung stiften. Diese Umkehrung versetzte sie ausserdem in eine zweideutige Lage: Sie hatten bis dahin das »Versöhnlertum« der stalinistischen Partei angeprangert und mussten ihr jetzt den scheinbar widersprüchlichen Vorwurf machen, die Bauernfrage mit Gewalt lösen zu wollen. So erweckte die Opposition den falschen Eindruck der Unredlichkeit, während die stalinistische Partei 1929–1930 brav auf die Methoden des Bürgerkrieges zurückgriff und den Eindruck erweckte, »weit mehr als die linke Opposition (und in noch höherem Masse als die rechte) das Recht zu haben, sich zu Vertreter des unnachgiebigen Kommunismus zu erklären«[169].

Ohne eine vorhergehende politische Konterrevolution waren die »Entkulakisierung« und die vermeintliche »Kollektivierung« nicht möglich gewesen; und gerade weil eine wirklich marxistische und proletarische Partei ein solches Werk nicht hätte vollbringen können, war ihre Niederlage unvermeidlich, denn dieses Werk entsprach durchaus einer »geschichtlichen Notwendigkeit« – 1929–30 wirkten die aus der vorhergehenden Epoche hervorgegangenen Bedingungen in einer Form zusammen, die keine andere Politik zuliess[170]. Dies gesagt, muss man sofort hinzufügen, dass Entkulakisierung und »Zwangskollektivierung« keineswegs einem vorgesehenen Plan entsprachen; noch weniger waren sie je im bolschewistischen Programm enthalten, als Massnahme für den Tag, an dem der Wiederaufbau abgeschlossen wäre. Es handelt sich dabei um Fälschungen, um die Vernichtung der Partei a posteriori zu rechtfertigen, bzw. den konterrevolutionären Charakter dieser Vernichtung zu verschleiern: Sie suggerieren in der Tat, dass die Partei auf dem Wege der »zweiten Revolution«, des »neuen Oktober« (die Kanaille wagte, von einem »Bauernoktober« zu reden!), dieser harmonischen Ergänzung der »ersten Revolution« des Oktobers 1917, den Widerstand der »Opportunisten«, der »Pazifisten«, der »Feinde des Muschik« und der »Freunde des Kulaken« brechen musste, weshalb auch diese »zweite Revolution« bis auf 1929–30 verzögert worden wäre. Diese entstellende Lesart verfehlte nicht ihre Wirkung, denn sie stellte Trotzkisten und Bucharinisten als Neu-Menschewiki und Neu-Sozialrevolutionäre dar und verlieh Stalin die Rolle eines neuen Lenins. Diese Schöne Symmetrie bricht jedoch völlig zusammen, wenn man den genauen Verlauf der »zweiten Oktoberrevolution« und vor allem ihre sozio-ökonomischen Folgen schildert. Die Agrarrevolution von 1929–30 bleibt als Tatsache selbstverständlich bestehen[171], aber der ganze Nimbus des »Sozialistischen«, ja selbst des »Progressiven«, mit dem die Totengräber der bolschewistischen Partei sie umgeben wollten, erlischt kläglich; die wahre Natur der Sache, der sie gedient, springt ins Auge und mit ihr zugleich der abscheulich defätistische Charakter des Vergleichs zwischen dem universellen, proletarischen und kommunistischen Oktober 1917 und den verworrenen und schmerzlichen Konvulsionen, aus denen schliesslich das kapitalistische Russland Nr. 2 hervorgegangen ist.

Eine Woche nach dem XV. Parteitag, auf dem die Position der Linken verurteilt und die Forderung nach Wiederaufnahme einer bestimmten Anzahl ihrer Mitglieder abgewiesen wurden, stehen die russischen Städte wieder vor der Gefahr einer Hungersnot, während sich auf dem Lande Zusammenstösse zwischen Eintreibern von Getreide und Bauern, die neue Preiserhöhungen verlangen, wiederholen. Im Januar 1928 verzeichnet die auf den Markt gelieferte Getreidemenge eine fünfundzwanzigprozentige Abnahme gegenüber dem Vorjahr; das für die Städteversorgung erforderliche Minimum wird um zwei Millionen Tonnen unterschritten. Auf dem Parteitag hatte sich Stalin über die »Panikmacher« der Linken, »die Hilfe schreien, wenn die Kulaken ihre Nasenspitz zeigen«, lustig gemacht; als sich aber das Politbüro am 6. Januar versammelt, um die Lage zu besprechen, führt er die Krise auf eine spekulative Vorratsbildung der Kulaken zurück. Notstandsmassnahmen werden geheim ergriffen; der Befehl wird erteilt, den Artikel 107 des Strafgesetzbuches auf die Kulaken anzuwenden (Beschlagnahmung der Spekulantenvorräte); um die armen Bauern zu einer Beteiligung an der Suchaktion anzuspornen, beschliesst man auch, dass ein Viertel des entdeckten Getreides unter ihnen zu verteilen ist. Die Ergebnisse sind schwach, was darauf hindeutet, es habe sich eher um einen echten Mangel als um spekulative Zurückhaltung gehandelt. Zwischen Februar und Juli findet eine wahrhaftige Mobilmachung der Stadt gegen das Land, der armen Bauern gegen die Kulaken statt. Stosstrupps aus jungen Arbeitern werden unter Anleitung von ungefähr zehntausend Parteimilitanten ins Dorf geschickt; die armen Bauern werden aufgefordert, gegen die Reichen »den Klassenkampf zu führen« und an der Suchaktion teilzunehmen – dafür verspricht man ihnen ja einen Teil der Beute. Neue Notstandsmassnahmen werden öffentlich ergriffen: Zwangsanleihen, Verbot des direkten Kaufs und Verkaufs im Dorf. Was die Presse angeht, so zieht sie nicht nur gegen die »Wiedergeburt des Kulakentums« zu Felde, sondern auch gegen die »Unterwanderung der Partei« durch Elemente, die »die Klassen im Dorf nicht sehen« und »mit dem Kulakentum in Frieden zu leben versuchen«, d. h. gegen die Rechte, deren Politik einige Monate zuvor bestätigt wurde. Während in den Städten die Furcht vor dem Hunger herrscht, lebt auf dem Lande die Atmosphäre des Kriegskommunismus wieder auf. Die Bauernschaft leistet Widerstand: Bucharin zufolge musste der Staat im ersten Halbjahr 1928 über hundertfünfzig Bauernrebellionen unterdrücken. Im April reichen dank der Beschlagnahmungen, die schliesslich alle Bauernschichten getroffen haben, die Vorräte der Städte aus, um das Gespenst des Hungers zu bannen, dann verurteilt das Zentralkomitee »die Verwaltungswillkür, die Verletzung des revolutionären Gesetzes, die Überfälle auf die Wohnungen der Bauern und die illegalen Durchsuchungen«; die Beschlagnahmungen werden verboten (ausgenommen Spekulationsvorräte), die Zwangsanleihen eingestellt, die Freiheit des Kaufs und Verkaufs im Dorf wiederhergestellt. Stalin behauptet: »Die NEP ist die Grundlage unserer Wirtschaftspolitik und wird es noch lange bleiben.« Aber kaum scheint sich die Getreidekrise wieder abzuzeichnen, da erklärt derselbe Stalin einen Monat später, im Mai 1928, in einer öffentlichen Rede eine neue Linie, die einen Bruch mit der rechten Politik des XV. Parteitags bedeutet; jetzt behauptet er, dass die Lösung der Getreidekrise »im Übergang von den einzelnen Bauernhöfen zu den Kollektivhöfen« bestehe und andererseits, dass man »unter keinen Umständen die Entwicklung der Schwerindustrie verzögern oder aus der Leichtindustrie, die für den Markt arbeitet, die Grundlage der Industrie als Ganzes machen darf.« Gegen seinen nachträglichen Anspruch, eine eigene Linie vertreten zu haben, eine besondere Parteilinie, die sich der »Linksabweichung« wie der »Rechtsabweichung« entgegengestellt hätte, schwankte das stalinistische Zentrum im Gegenteil nach der Laune der Krise hin und her, unterstützte zunächst die Wirtschaftspolitik der Rechten gegen die Linke, um dann bei der ersten Schwierigkeit die Wirtschaftspolitik der Linken sich anzueignen und der Rechten aufzuzwingen; Beharrlichkeit und Kontinuität erwies das Zentrum in einer einzigen Hinsicht: der systematischen Zerstörung der Partei Lenins.

Die Rechte ihrerseits behielt vollständig die Positionen, die sie seit der ersten Auseinandersetzung von 1923 stets vertreten hatte, nicht aus mangelnder Einsicht, sondern weil sie prinzipiellen Überlegungen entsprachen, die stärker waren als die Eindrücke der Krise. Aus diesem Grunde ist es angebracht, an den letzten Kampf zu erinnern, mit dem Bucharin auf die stalinistische »Linkswendung« vom Mai 1928 antwortete. Bucharin erkannte durchaus, dass die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion von der progressiven Ersetzung der kapitalistischen Betriebe durch Genossenschaften der mittleren und armen Bauern abhing und dass der Übergang vom Klein- zum Grossbetrieb sich auf dieser Grundlage vollziehen musste; er wiederholte aber, dass dieser Prozess dank der Belebung der Einzelbetriebe und nicht dank einer ökonomischen Auspressung der Bauernschaft durchzuführen war. Er gab durchaus auch zu, dass die Entwicklung der Landwirtschaft von der Entwicklung der Industrie abhängt, verwarf aber den Gedanken einer Beschleunigung des Industrialisierungstempos; mehr noch, er warnte vor dem Urheber des Druckes, der in diese Richtung ausgeübt wurde: »der gigantische Staatsapparat, in dem sich Elemente der bürokratischen Entartung eingenistet haben, die den Interessen der Massen, ihrem Leben, ihren materiellen und kulturellen Interessen völlig gleichgültig gegenüberstehen«, »die Funktionäre […] die bereit sind, jeden beliebigen Plan auszuarbeiten«. Die Linke äusserte sich dazu mit Sarkasmus und sah in der Krise eine Bestätigung ihrer eigenen Positionen; und doch verteidigte Bucharin in dieser letzten Phase des Kampfes das Programm von Lenin, d. h. das Prinzip der Parteikontrolle über die natürliche Tendenz des Kapitals, ob privat oder verstaatlicht, seine beschleunigte Akkumulation auf dem Rücken der Arbeiterklasse und der Bauern zu vollziehen; der Staatsapparat ist der natürliche Kanal dieser Tendenz, ihr blinder und passiver Träger, der aber über jeden sozialistischen Willen siegen muss, wenn die Partei, statt zu versuchen, ihre Kontrolle über diesen Apparat aufrechtzuerhalten, dazu übergeht, den Befehlen des Staatsapparates – d. h. den Befehlen des unpersönlichen Kapitals – zu gehorchen, und in ihr eigenes Programm die Losung schreibt: »beschleunigte Industrialisierung«. Damit verteidigt Bucharin auch die marxistische Auffassung von der Rolle der proletarischen Diktatur gegen die Veränderung, die ihr die Linke, ohne sich dessen bewusst zu sein, unter dem Einfluss einer wirtschaftlichen Lage, die durch eine unzureichende kapitalistische Entwicklung gekennzeichnet war, zugefügt hat.[172] In der marxistischen Auffassung, die von der Voraussetzung einer Revolution in einem entwickelten kapitalistischen Land ausgeht, besteht die Rolle der proletarischen Diktatur in der Zerstörung aller Hindernisse, die der Entstehung einer neuen Wirtschaftsordnung im Wege stehen, und das ist alles. Auf dieser Entwicklungsstufe gibt es keinen Gegensatz zwischen der Partei einerseits und dem Staatsapparat andererseits. Der revolutionäre Wille der Partei wirkt im Sinne der Bedürfnisse einer Gesellschaft, die der Akkumulationszwang des Kapitals zu einer Dauerkrise verurteilte, einer Gesellschaft, die eben aus diesem Grunde eine gewaltsame Revolution durchmachen musste. Unter solchen Bedingungen kann die Partei den Staatsapparat mit der grössten Leichtigkeit in die gewünschte Richtung führen: Der Staatsapparat hat selbst keine Energie, er ist, wenn der Vergleich erlaubt ist, an sich nichts anderes als eine Karosserie – der Motor liegt woanders. Nun stand Russland auf einer sehr niedrigen Stufe des Kampfes um den Sozialismus, auf einer Stufe, wo selbst die materiellen Grundlagen dieses Sozialismus fehlten; aber auch hier kann es keine Umkehrung der Rolle der Partei und der Diktatur geben – und gerade davon versuchte Bucharin seine Gegner vergeblich zu überzeugen[173]. Auch hier bleiben Partei und proletarische Diktatur Zerstörer von Hindernissen, sie verwandeln sich nicht in »Aufbau-« oder »Errichtungskräfte«. Die einzige wirkliche »Aufbau-« und »Errichtungskraft« befindet sich in der inhärenten Dynamik einer noch rückständigen Wirtschaft, die spontan zum Kapitalismus treibt. Sicherlich wird die Einwirkung des revolutionären Willens, der proletarischen Diktatur als eines politischen Faktors auf dieser Entwicklungsstufe Resultate haben, die sich völlig von den Resultaten unterscheiden, die sie auf einer höheren Entwicklungsstufe haben würde: die Form der Einwirkung ist aber in beiden Fällen die gleiche. Partei und Diktatur können nicht anders auf die Wirtschaft einwirken als durch Verbote und Aufhebung von Verboten. Verbieten sie jede kapitalistische Entwicklung, so blockieren sie gleichzeitig jeden Fortschritt überhaupt und werden daher kurzfristig als reaktionäre Bremse in die Luft gesprengt. Heben sie alle Verbote auf, so verzichten sie auf jedweden Einfluss. Hier liegt die Schwierigkeit. Wenn sie aber glauben, dieser harten Alternative dadurch entrinnen zu können, dass sie ihre strikt politische Rolle aufgeben und die Wirtschaftsaufgaben selbst übernehmen, so ist es noch schlimmer: Dadurch verlieren sie nicht ihren Einfluss, sondern überhaupt ihre eigene Natur von Instrumenten des Proletariats: In dem Moment, wo sie glauben, das Höchstmass an Einfluss erreicht zu haben, gerade in diesem Moment hebt sich der spezifische Charakter ihres Einflusses auf. Die ökonomische Dynamik findet hier in der Tat im Staatsapparat, der nach der Revolution die bürgerliche Klasse ersetzte, ihren natürlichen Transmissionsriemen. Auf einer so niedrigen Stufe des Kampfes um den Sozialismus gibt es doch noch einen latenten Konflikt zwischen der Partei und diesem Apparat, während auf einer höheren Stufe dieser Konflikt undenkbar ist, weil der Kapitalismus die geschichtliche Triebkraft verloren haben wird und damit auch weitestgehend die Macht, mit der Partei um den Einfluss auf den Staatsapparat zu kämpfen. Der Konflikt zwischen Partei und Staat ist ein abgeleiteter; ihm zugrunde liegt der Konflikt zwischen kommunistischer Partei und Kapitalismus, einem Kapitalismus, den sie nicht verbieten kann, auf dessen Einschränkung sie aber nur verzichten kann, wenn sie sich selbst abschwört. Doch gerade das tut sie, wenn sie sich vornimmt, die Industrialisierung zu beschleunigen, die ganzen Ressourcen von der Leicht- auf die Schwerindustrie zu verlagern, denn dadurch kapituliert sie vor der kapitalistischen Dynamik der Wirtschaft, deren Erfordernisse beim Fehlen einer ausgebildeten Kapitalistenklasse der Wirtschaftsapparat des Staates voll und ganz zum Ausdruck bringt, ohne jegliche Rücksicht auf die Bedürfnisse des Proletariats und der Massen im allgemeinen. Möge dies alles als Erklärung dafür dienen, warum Bucharin im Hinblick auf die Industrie Massnahmen vertrat, die der Linken lächerlich bescheiden vorkamen im Vergleich zu den unermesslichen Bedürfnissen: Man sollte sich damit begnügen, das bereits erreichte Wachstumstempo zu behalten und dafür die riesigen unproduktiven Ausgaben herabdrücken, die Produktionszeiten (zwölfmal höher als in den fortgeschrittenen Sektoren der US-Wirtschaft) verringern, gegen die Verschwendung kämpfen (für eine gegebene Produktion wurde in Russland anderthalb bis zweimal mehr Material verbraucht als in Amerika), kurzum man sollte rationalisieren, sparen, anstatt zu versuchen, Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. Die Sorge, die dem zugrunde liegt, ist augenscheinlich: Die nationale Industrialisierung darf nicht zu schwer auf den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse lasten. Das stalinistische Zentrum war auf eine solche Klassensorge zwar nicht anzusprechen, die Warnung war aber prophetisch, was übrigens auch dadurch bestätigt wird, dass gegenüber der stalinistischen Industrialisierung selbst die Kritik von Trotzki »Bucharin’sche« Akzente annehmen sollte.

Seit der Rede vom Mai 1928 (die Stalins Wende in der Bauern- und in der Industrialisierungsfrage markierte) bis April 1929, als Bucharin zum ersten Mal als Führer der Rechten angezeigt wird, und seither bis November 1929, als Bucharin kapituliert, entwickelt sich der Kampf nach dem üblichen stalinistischen Schema: »Säuberung« der Partei einerseits, heftige Kampagne gegen die Unterwanderung der Partei durch die Kulaken[174] andererseits – alles begleitet von unaufhörlichen Schwankungen in der Wirtschaftspolitik. Im Juli 1928 beschliesst das Zentralkomitee »einstimmig« »rechte« Massnahmen[175]: Zweites Verbot von Beschlagnahmungen und Durchsuchungen bei den Bauern, Erhöhung der Getreidepreise um 20 %. Die Stalin’sche Fraktion verlangt jedoch gleichzeitig einen »erbarmungslosen Kampf gegen das Kulakentum« und wirft der Rechten vor, sie sei »weder marxistisch noch leninistisch, sondern eine Vereinigung von rückwärtsgewandten Bauernphilosophen«. Entsprechend seinem üblichen Eklektizismus weist Stalin ebenso den Vorwurf zurück, der NEP den Rücken kehren zu wollen und spricht von einer »neuen Etappe« auf der Grundlage der NEP. Juli 1928 schreibt er noch: »Es gibt Leute, die denken, die landwirtschaftlichen Einzelbetriebe seien am Ende ihrer Kräfte und dass es sich nicht lohne, sie zu schützen. Solche Leute haben nichts mit unserer Partei zu tun.« Ende 1929 sieht der erste von der Partei beschlossene Fünfjahresplan vor, dass noch 1933 lediglich 20 % der Saatfläche »kollektiviert«, d. h. durch Bauerngenossenschaften betrieben sein werden. Im Frühjahr 1929[176] erklärt Stalin noch, dass »die Einzelhöfe noch weiterhin eine vorherrschende Rolle in der Versorgung des Landes mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen spielen werden.« Einige Monate später war die »allgemeine Kollektivierung« bereits auf dem Höhepunkt.

Die vermeintliche »zweite Revolution«, deren gewaltsame Phase sich durch die ganze zweite Jahreshälfte von 1929 erstreckte und sich bis Anfang März verlängerte, hatte nicht nur den Charakter einer unter dem Druck der Tatsachen improvisierten Politik, sondern auch den Charakter eines Kompromisses, des schlechtesten, den man je hätte eingehen können. Erstens war die von Stalin in seiner Rede vom Mai 1928 vorgesehene Form der »Kollektivierung« nicht die Sowchose (d. h. ein Staatsbetrieb, der von irgendeinem Beamten geleitet wird und Lohnarbeiter beschäftigt) sondern der Artel, also eine Kolchoseform, die zwischen der einfachen Genossenschaft und der Kommune liegt. Insofern hat Stalin nichts Neues erfunden, denn kein Bolschewik hatte im Laufe der früheren Jahre je behauptet, die Sowchoseform zügig verallgemeinern zu können. Um die Parzellenwirtschaft unmittelbar durch Sowchosen zu ersetzen, wären ja ein riesiges Betriebskapital (Maschinen, Werkzeuge, Kunstdünger usw.) und eine ebenso riesige qualifizierte Arbeitskraft (Agronomen und Mechaniker) erforderlich gewesen, und der Staat verfügte nicht über diese Mittel. Davon abgesehen, war es klar, dass das Regime einen solchen Versuch der Verwandlung von Millionen und aber Millionen Kleinbauern in einfache Lohnarbeiter nicht überleben würde. Anders bei Stalin: Dank seiner Demagogie gegen das Kulakentum verlieh er seiner Politik einen ausgesprochen opportunistischen Charakter; diese antikapitalistische Demagogie diente dazu, den Artel, eine einfache Genossenschaft, die als selbständiger Betrieb auf dem Markt auftritt, als eine kommunistische Form auszugeben, während der Artel in Wirklichkeit selbst hinter der staatskapitalistischen Form (der Sowchose) zurückliegt, wobei diese staatskapitalistische Form ihrerseits unter bestimmten Voraussetzungen lediglich als Hebel für die sozialistische Umgestaltung dienen kann. Es handelte sich um eine gigantische Verfälschung, um die Rivalität zwischen Klein- bzw. Mittelbauern und reichen Bauern um die Nutzung des Bodens und die Aneignung des Bodenertrages mit dem revolutionären Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie gleichzustellen. Nun wusste die marxistische Partei seit dem »Manifest« nur allzu gut, dass nur dieser zweite Kampf ein Emanzipationskampf ist, während der Kampf der besitzenden Klassen in der Verteidigung ihrer Lebensgrundlagen (des Privateigentums) ein reaktionärer Kampf ist, der das Rad der Geschichte zurückzudrehen trachtet. Aber kommen wir auf die Kolchose zurück, die Form, die sich nach heftigen Erschütterungen schliesslich durchsetzte und deren »Statut« übrigens erst 1935 ausgearbeitet wurde. Sie liegt noch hinter dem Artel zurück und festigte sich nicht, weil dies der »Absicht« der Regierung entsprochen hätte, sondern weil die Regierung dazu gezwungen wurde, dies hinzunehmen. Daran kann man die Idiotie des bürokratischen Optimismus messen, der sich 1929–30 einbildete, »den Kommunismus in die Landwirtschaft einzuführen«.

Es ist sehr schwierig, die genauen Wechselbeziehungen von »Zwangskollektivierung« und »Entkulakisierung« festzustellen. Diese Frage wäre leichter zu beantworten, wenn man die Agrarkrise von 1927–29 auf die Ausdehnung der Kulakenwirtschaft zurückführen könnte: Infolge der ökonomischen Erpressung durch das Kulakentum wäre die Sowjetmacht vom Sturz bedroht gewesen und hätte dann keinen anderen Ausweg gehabt, als die Klasse der reichen Bauern den Plünderungen der ärmeren Schichten auszuliefern, d. h. sie hätte den Boden und die Maschinen der reichen Bauern den ärmeren übereignet, um anschliessend diese ärmeren Bauern selbst dazu zu zwingen, den Genossenschaften beizutreten; obwohl sie nicht über die technischen Voraussetzungen für eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität verfügten, würden diese Genossenschaften schon infolge der Ersetzung der individuellen Arbeit durch die Kooperation doch einen höheren Gesamtertrag liefern können, was eine Entspannung der städtischen Versorgungslage zur Folge hätte.

Aber trotz des in dieser Beziehung übereinstimmenden Urteils der linken Opposition und der Stalinisten (oder vielleicht gerade wegen dieser Übereinstimmung) scheint eben diese Hypothese mehr als fraglich, derzufolge der Rückgang der auf dem Markt verfügbaren Lebensmittelvorräte nicht auf die Ausdehnung der kleinen Parzellenproduktion der Mittelbauern (Serednjaki), sondern im Gegenteil auf die Ausdehnung des kapitalistischen Betriebes des reichen Bauern und Spekulanten (Kulaki) zurückzuführen sei! Die Rede, die Stalin am 27. Dezember 1929 persönlich hielt, um die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« zu begründen, widerlegt nolens volens[177] selber diese These. Stalin nannte in der Tat folgende Zahlen: Die Kulaken produzierten vor der Revolution 1900 Mill. Pud Getreide und 1927 nur noch 600 Millionen; die Serednjaki und Bjednjaki [arme Bauern] waren in derselben Zeit von 2500 Mill. Pud auf 5000 Mill. gestiegen. Diese offensichtlich übertriebenen Zuwachszahlen (100 %!) Lassen sich durch den Eifer erklären, die Vorteile, die die Oktoberrevolution für die kleine und mittlere Bauernschaft gebracht hatte, zu betonen; aber selbst, wenn man von der Übertreibung absieht, zeigen die Zahlen alles andere, nur nicht eine Festigung der Kulakenwirtschaft.

In diesem Fall wäre die Wende von 1929 nicht so sehr mit einer dringenden Bedrohung durch das Kulakentum zu erklären, als vielmehr mit der Tatsache, dass der Bucharin’sche Weg einer progressiven, vornehmlich durch die Auswirkung des Marktes herbeigeführten Transformation der kleinen Parzellenbauern in Lohnarbeiter der Kulaken sich als zu langsam erwiesen hatte, während die Liquidierung der kleinen Produktion inzwischen aber zu einer Lebensfrage geworden war. Die Entkulakisierung erscheint dann nicht so sehr als Ursprung der »Zwangskollektivierung«, sondern vielmehr als deren Ergänzung. Die Enteignung der reichen Bauern zugunsten der Kolchosen erlaubte die Ausrüstung dieser Genossenschaften, die über keinerlei Produktionsmittel verfügten, mit mindestens einigen spärlichen Voraussetzungen für eine erste ökonomische Entwicklung; sie erlaubte aber zugleich, die Offensive des etatistischen Kapitalismus gegen die ländliche Klein- und Kleinstbourgeoisie hinter einem antibürgerlichen Mantel zu verschleiern: D. h. durch die Enteignung der Kulaken konnte der Staat der armen Kleinbourgeoisie des Dorfes einen demagogischen Ausgleich bieten, um sie dadurch noch fester unter sein hartes Joch zu bringen; schliesslich lag darin das sicherste Mittel, um zu verhindern, dass die Landbevölkerung sich um die unternehmerischsten (weil weniger armen) Schichten vereinigte, um der Diktatur der Stadt Widerstand zu leisten.

Die erste Deutung würde besser den Positionen der marxistischen Linken entsprechen, die zweite denen der marxistischen Rechten. Ob man sich nun der einen oder der anderen anschliesst, ist die Schlussfolgerung dieselbe: Die Politik des Stalin’schen Scheinzentrums war entschieden antimarxistisch und antiproletarisch.

Der Erfolg der Zwangseintreibungen von Getreide einerseits, andererseits die ermutigenden Berichte der Behörden über die Genossenschaftsbewegung in der zweiten Hälfte des Jahres 1929 ermunterten die Stalin’sche Fraktion dazu, die »Kollektivierung« weit über die ursprünglich fixierten Grenzen zu führen. Diese Erfolge zeigten in der Tat, dass die Bauernschaft als Ganzes bei weitem nicht so widerstandsfähig war, wie man es befürchtet hatte; sie zeigten auch, dass die ärmeren Bauernschichten mehr als erwartet für die Kampagne zugunsten der Kollektivierung zugänglich waren. Stalin war ja unfähig, sich an jegliche Prinzipien zu binden, und so genügte es, die Furcht vor der Bauernschaft zu vertreiben, damit er die letzten Bedenken, die ihn noch bis Mitte 1929 an die Rechte gebunden hielten, beiseite warf. Es wurde dann egal, dass man 1929 nur über 7000 Traktoren verfügte, während nach dem Geständnis von Stalin 250 000 erforderlich gewesen wären; es wurde dann egal, dass die Kollektivierung von 5 bis 8 Millionen Kleinsthöfen, die noch auf der Stufe des Holzpfluges standen, ganz und gar nicht der Einführung einer höheren Produktionsweise gleichkam: Es wurde der Verwaltung der Befehl erteilt, »die Kollektivierung zu beschleunigen« und »das Kulakentum so hart zu treffen, dass es sich nicht wieder aufrichten kann«. Vom Oktober 1929 bis Mai 1930 stieg der Anteil der in Kolchosen eingegliederten Familien offiziell von 4,1 % auf 58,1 %, was – wie es sich von selbst versteht – von keiner fühlbaren Erhöhung der Maschinenanzahl begleitet wurde. Dieses Ergebnis konnte jedoch nur um den Preis eines solchen Kampfes, um den Preis so verheerender ökonomischer Folgen und einer solchen Zuspitzung der Spannung zwischen Stadt und Land erreicht werden, dass Stalin selbst seiner amtlichen »Revolution« ein Ende setzen musste. Wenn die statistischen Angaben stimmen, denen zufolge es 1,5 bis 2 Millionen wohlhabende, 5 bis 8 Millionen arme und 15 bis 18 Millionen mittlere Bauernhöfe gab, dann ist es klar, dass die Zwangsbildung von Kolchosen, wenn sie über die Hälfte der Bauernhöfe erfasste, die mittlere Bauernschaft in einem weiten Masse getroffen hat, zumal die Kulakenfamilien ausgeschlossen waren. Darin liegt das ganze Geheimnis des gewaltsamen Charakters, den die Unternehmung angenommen hat: je grösser die »Differentialrente«, desto mehr klammert sich der Bauer an sein Land fest, wie Trotzki in einem Artikel erklärte, den wir als Anmerkung zitieren[178]. In diesem Zusammenhang ist es wahrscheinlich, dass die ärmeren Bauernschichten die »Kollektivierung« doch mit der berühmten Begeisterung akzeptiert haben, sofern ihre bereits verzweifelte Lage dadurch ja nicht verschlechtert wurde.

Die geradezu naive These, derzufolge »in Russland alles besser gelaufen wäre, wenn man die Bauern in Ruhe gelassen hätte«, kann getrost dem bürgerlichen Liberalismus überlassen werden; ihr liegt die so stockmoralische wie heuchlerische Verabscheuung von Gewalt zugrunde, die wohl die Sicht dafür trübt, dass der Kapitalismus sich ohne Gewalt den eigenen Weg noch nirgends bahnen konnte und dass seine ursprüngliche Akkumulation überall für die Kleinproduzenten nicht weniger als für die Proletarier ein einziger Leidensweg war. Einmal klargestellt, dass die proletarische Partei nicht das geringste Zugeständnis an die pazifistische Ideologie des Klassenfeindes macht, kann man ruhig sagen, dass sie eine Politik weder befürworten konnte noch befürworten kann, die unter dem Vorwand, den Gang der Geschichte zu beschleunigen, kein anderes Ergebnis haben konnte, als ihn masslos zu verzögern – ganz abgesehen davon, dass sie die kommunistische Politik den unheimlichsten Vergleichen mit den schlimmsten Heldentaten der herrschenden Klassen der Gegenwart und der Vergangenheit aussetzte. Die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« (amtlicher Euphemismus, um den Glauben zu erwecken, man wollte den Millionen wohlhabenden Bauern und ihren Familien nichts antun, sondern bloss ihrer Produktionsweise) und die »beschleunigte Kollektivierung« bedeuteten faktisch die Entwurzelung und Zwangsverschleppung von über zehn Millionen Menschen (die Bevölkerung der UdSSR betrug damals 160 Millionen). Bald verteilen die Kleinbauern die Kulakenbeute habgierig untereinander, bald verbünden sie sich mit den Kulaken: In diesem Fall wird das rebellische Dorf mit Waffen belagert und zur Aufgabe gezwungen. Die Plünderungen durch gewisse städtische Stosstrupps, die übertriebene Sorgfalt einer primitiven oder erschrockenen Verwaltung, die selbst die Schuhe, die Kleidung, ja die Brillen der Landbevölkerung »kollektiviert«, die zynische Korruption von Beamten, die den »Kulaken« die Sachen wiederverkaufen, die sie ihnen soeben abgenommen haben, das alles verzehnfacht die Verzweiflung der Bauern, die nicht nur so viele »Kommunisten« (und im allgemeinen Städter) ermorden[179], wie sie nur können, sondern auch das Vieh ja oft sogar ihr Werkzeug vernichten und die Ernte in Brand stecken, um nichts in den Kollektivhof einzubringen, denn sie wissen wohl, dass sie dort nur einen Arbeiterlohn erhalten werden. Die Stalin’sche Macht wird noch drei Jahre warten, bis sie im Januar 1934 das Ausmass der dadurch verursachten Wirtschaftskatastrophe bekannt gibt: In einem Land, in dem es fast keine Traktoren gibt, gingen 55 % der Zugpferde (18 Millionen), 40 % der Rinder (11 Mill.), 55 % der Schweine, 66 % der Schafe verloren, und weite Anbauflächen hatten sich in Brachland verwandelt; Aufstände waren in der ganzen Union ausgebrochen[180]. Die von der Regierung in Euphoriestimmung improvisierte Operation artete also in einen Bürgerkrieg aus. Aber in diesem Bürgerkrieg konnte die Stalin’sche Macht weder mit der Roten Armee rechnen, deren Offiziere zu einem grossen Teil aus dem Kulakentum stammten und deren Soldaten in der Mehrheit Bauern waren[181], noch konnte sie mit der städtischen Arbeiterklasse rechnen, weil diese 1929 im Wesentlichen aus kürzlich zugewanderten Bauern bestand und ihre anfängliche Sympathie für die »Kollektivierung« in demselben Masse abnahm, wie mit dem Druck auf die Bauern auch die Versorgungsschwierigkeiten in den Städten zunahm. Andererseits führte eine solche Politik die Gefahr einer im Vergleich zu den vergangenen Jahren noch beträchtlicheren Einschränkung der Frühjahrssaat herbei, d. h. die Gefahr einer Versorgungskrise, die diesmal die letzte Stunde der Sowjetmacht sehr wohl bedeuten konnte. Diese Lebensgefahr zwang Stalin dazu, am 2. März 1930 in der »Prawda« den berühmt berüchtigten Artikel »Der Schwindel des Erfolgs« zu veröffentlichen, dessen Widerhall im ganzen Land, das ihn als einen Erlass betrachtete, riesig war. Hatte er einige Monate zuvor auf Engels und dessen Vorsicht noch herabgeblickt, so verwarf er jetzt die Gewaltanwendung, um die Bauern zum Eintritt in die Kolchosen zu zwingen, er verwarf die Verwechselung zwischen mittleren Bauern und Kulaken, die rein administrative, ungenügend vorbereitete Bildung von Kollektivhöfen, die Errichtung von Kommunen statt Artels, wobei die Verantwortung wohlgemerkt auf die Militanten und Beamten abgewälzt wurde, die durch neue und rigorose »Säuberungen« hindurch mussten. Diesem Artikel folgte am 15. März 1929 ein Parteibeschluss, demzufolge der Eintritt der Bauern in die Kolchosen nunmehr ausschliesslich auf freiwilliger Basis erfolgen sollte, die »untragbare Entartung des Klassenkampfes auf dem Lande« aufzuhören hätte (wobei die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« unvermindert fortzusetzen war) und, was symptomatisch ist, der intensiven antireligiösen Propaganda und der Zwangsschliessung von Kirchen ein Ende gesetzt werden sollte! Da der Beschluss es den Bauern ausserdem freistellte, die bereits gebildeten Kolchosen zu verlassen, vollzog sich die »Entkollektivierung« noch schneller als die »Kollektivierung«: Der Anteil der in Genossenschaften organisierten Familien fiel von den amtlichen 58 % (mehr in den Getreideanbaugebieten, weniger in anderen Gegenden) auf 23 %. Die Verwirrung war extrem, aber die Bauernschaft ist zu einer eigenständigen Politik absolut unfähig, sie stellte daher den Widerstand sofort ein, sobald der Druck nachliess. Dank diesem Umstand und auch der Tatsache, dass sich die Ernte von 1930 als gut erwies, konnte das Regime, das am Rande des Abgrunds getaumelt hatte, standhalten. So, unter der eisernen Faust des Stalinismus, des Henkers des Bolschewismus, durchwühlt von Lüge und Gewalt, von Prahlerei und Abschwörung, ging ein kapitalistisches Russland Nr. 2 in weniger als drei Jahren aus der UdSSR der NEP hervor. Die beispiellose Krise von 1929–30 in der Folge so vieler anderer Erschütterungen, die zerreissenden gesellschaftlichen Gegensätze, die durch das »Verschwinden der Bourgeoisie« keineswegs gemildert, durch die nationale Isolierung jedoch umso mehr zugespitzt wurden – das alles prägte dem neuen Nationalrussland einen lang anhaltenden, entsetzlichen aber eigenartigen Siegel auf, und es sollte hinter der Maske des Sozialismus die Welt noch für Jahrzehnte damit verwirren und manchmal erschrecken.

Notes:
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  1. Trotzki verlieh der Wirtschaftsfrage eine so grosse Bedeutung, dass er in dieser Phase all seine Bemühungen auf sie zentriert hat. So verzichtete er auf jeden Eingriff gegen die Georgienpolitik von Stalin, Dserschinski und Ordschonikidse, obwohl Lenin – der infolge des zweiten Anfalls seiner Krankheit den Parteiversammlungen fernbleiben musste – ihn am 5. März ausdrücklich gebeten hatte, die Sache der Georgier zu verteidigen. Dasselbe gilt auch für die Parteifrage. Bekanntlich hatte Lenin seine Absicht bekundet, auf dem Parteitag eine Bombe gegen Stalin platzen zu lassen, wenn er daran teilnehmen könne. Trotzki schwieg aber und griff nicht ein zur Unterstützung der Kritik von Bucharin, Preobraschenski und Rakowski an dem Apparat der Troika Stalin-Kamenew-Sinowjew (Bucharin bezeichnete die Nationalitätenpolitik Stalins als chauvinistisch, Preobraschenski griff die inneren Parteizustände an, Rakowski kritisierte die »Russifizierung« im Namen der ukrainischen Delegation). Lenin hatte in der Nacht vom 5. zum 6. März per Brief mit Stalin gebrochen (das zeigt übrigens, welche politische Einschätzung er von Stalin hatte); entgegen dem ausdrücklichen Wunsch von Lenin, verzichtete Trotzki jedoch auf eine Opposition gegen die Wiederwahl Stalins zum politischen Sekretariat, bekundete die Solidarität des Politbüros und des Zentralkomitees und rief die Partei zur Disziplin auf. Es ist also klar, dass für Trotzki im März 1923 die Wirtschaftsfrage die zentrale Bedeutung hatte; allerdings konnte Trotzki nicht ahnen, welche Kampagne ab Herbst gegen ihn wegen seiner vermeintlichen »Unterschätzung der Bauernschaft« entfesselt werden sollte, eine rein politische Kampagne unter sozialem Vorwand.

  2. Im März hatte Trotzki noch verzweifelt versucht, die Spannungen, die in der Partei herrschten, zu entschärfen. Ursache dieser Spannungen war die rein parlamentarische Politik, mit der die Troika um die Macht kämpfte. Nach den ersten Ereignissen des Sommers sah sich Trotzki jetzt aber gezwungen, in die Opposition zu gehen. Die Wirtschaftslage hatte sich verschlechtert und die Lohnzahlung an die Arbeiter musste eingestellt werden. Wilde Streiks brachen aus, in die Parteimitglieder, die die NEP nicht akzeptiert hatten, eingriffen, um die Führung zu übernehmen (es handelte sich dabei um Mjasnikow und ca. 30 Mitglieder seiner sogenannten »Arbeitergruppe« sowie um den alten Bogdanow und seine Gruppe »Arbeiterwahrheit«). Diese Militanten sollten bald ausgeschlossen werden, aber – und hier liegt ein ernstes Anzeichen vor – sie wurden zunächst von der GPU verhaftet, deren Leiter, Dserschinski, aus diesem Anlass vom Politbüro verlangte, »jedes Parteimitglied muss verpflichtet sein, der GPU jede Oppositionstätigkeit anzuzeigen«. Trotzki hatte sich gegenüber den Apellen der Opposition (vor allem von Preobraschenski und Bucharin), »die Demokratie in der Partei wiederherzustellen«, bislang sehr zurückhaltend verhalten; Dserschinskis Ersuchen offenbarte jedoch eine solche »Zersetzung der inneren Lage der Partei seit dem XII. Parteitag«, dass er das Bündnis mit Sinowjew, Kamenew und Stalin, zu dem er sich gezwungen hatte, auf der Stelle brach.

  3. Es handelte sich um Molotow und Mikojan, die mit billiger Ironie gegen die Projekte einer mehrjährigen Planung der Industrie zeterten und der Opposition vorwarfen, die Bauernschaft der Industrieentwicklung opfern und bürokratische Auffassungen in der Wirtschaft durchsetzen zu wollen.

  4. Gemeint ist das Regime der »Glavs«, d. h. der zentralen Wirtschaftsleitungen, die während der NEP errichtet worden waren und die Staatsindustrie ausserhalb jedes Tausch- und Marktverhältnisses mit Staatsgewalt führten. Als 1921 die Freiheit des Handels wiedereingeführt wurde, wurden sie aufgelöst.

  5. In der Vorbereitungszeit zum XII. Parteitag war es Rykow, ein künftiger Vertreter der Rechten, gewesen, der trotz seiner eigenen Feststellung, das Grund- und Umlaufkapital der Staatsindustrie habe sich im Laufe von 1922–23 weiter verringert, doch die Ansicht vertrat, dass die Staatsindustrie 1923 Gewinne erzielen Trotzki erklärte zu Recht, diese »optimistischen Hoffnungen« nicht teilen zu können.

  6. Das war ein alarmierendes Zeichen, das für den Erschöpfungszustand der gesunden Parteikräfte Bände spricht; die Demoralisierung hatte sich vor allem nach der deutschen Niederlage im Oktober 1923 breit gemacht, die alte Militante wie Lutowinow[182] und Jewgenija Bosch[183], einen Sekretär von Trotzki (Glatzmann) und viele andere weniger bekannte Militante der Opposition in den Selbstmord getrieben hatte. Viele Militante der Opposition wurden für die Verteidigung ihrer Positionen mit Versetzung gestraft, was die Schwächeren einschüchterte und nunmehr zur »Vorsicht« verleitete.
    Die Niederlage der Linken wurde 1925 durch die Entfernung von Trotzki aus dem Kriegskommissariat, und damit aus der Regierung, ergänzt. Trotzki unterwarf sich dieser Entscheidung mit vollkommener Disziplin und liess sich niemals auf die Ebene einer persönlichen Polemik herab.

  7. Es ist schwer festzustellen, wie zahlreich und wie reich die »reichen Bauern« waren. Die zwei Tendenzen, die sich innerhalb der Partei bekämpften, sagten in dieser Beziehung die widersprüchlichsten Dinge, während die ausländischen Beobachter ihrerseits von der schrecklichen Rückständigkeit der gesamten russischen Landwirtschaft so beeindruckt waren, dass ihnen die Unterscheidung zwischen armen, mittleren und reichen Bauern (Bjednjaki, Serednjaki und Kulaki) keine grosse ökonomische Bedeutung zu haben schien; es gab sogar ausländische Beobachter, die so weit gingen, zu behaupten, die lokalen Behörden hätten in ihrem Eifer, die Parteidirektiven anzuwenden (und es ist klar, dass die Partei aus politischen Gründen der sozialen Differenzierung innerhalb der Bauernschaft die grösste Bedeutung beimessen musste), die »Kulaken« ganz einfach erfunden bzw. die Daten für die Einstufung in die jeweiligen Kategorien gefälscht. Diese Vermutung hätte Lenin bestimmt nicht schockiert, der am Ende seines Lebens erklärte, dass »unser Staatsapparat nichts taugt«, ja bereits im März 1919 auf dem VIII. Parteitag bemerkt hatte, dass Karrieristen und Abenteurer sich an die Kommunisten heranmachten, »weil die Kommunisten jetzt an der Macht sind, weil die ehrlicheren ›beamteten‹ Elemente wegen ihrer rückständigen Ideen nicht zu uns gekommen sind, während die Karrieristen weder Ideen noch Ehrgefühl haben.« Der Linken zufolge hatte man 1925 folgende Lage: Wahre Nutzniesser der NEP sind ca. 3-4 % der Bauern; arme und mittlere Bauern, die nicht die Mittel hatten, ihr eigenes Land zu bebauen oder sich mindestens davon zu ernähren, haben ihr Land zum Teil dieser Kulakenklasse überlassen, die nunmehr illegal die Hälfte der Saatfläche in ihrer Hand behält sowie 60 % der Maschinen; die reicheren Kulaken (2 %) liefern 60 % der auf den Markt kommenden landwirtschaftlichen Erzeugnisse; sie behalten ¾ des illegal gepachteten Bodens und beschäftigen ebenso illegal dreieinhalb Millionen Landarbeiter und über 1,5 Mill. Tagelöhner zu Löhnen, die um 40 % unter den Vorkriegslöhnen liegen. Diese Zahlen, die von Victor Serge in »Vers l’industrialisation« zitiert und von P. Broué in seinem Buch »Parti bolchevique« übernommen wurden, sind nicht nachprüfbar.

  8. Selbst Trotzki gab zu, dass diese Zugeständnisse unvermeidlich seien, allerdings durch den Fehler der Führung bedingt worden wären, die die notwendigen Anstrengungen für eine zügigere Industrialisierung vernachlässigt hätte.

  9. Unter »Kooperation« bzw. Genossenschaftswesen verstanden die Bolschewiki alle Formen der assoziierten Arbeit, vom einfachen »Towarischtschestwo« (einfacher genossenschaftlicher Ackerbau) bis hin zum Artel und der Kommune; die Stufe des Staatskapitalismus erreichte die Kooperation erst in der Sowchose. Im »Towarischtschestwo« wird das Land kollektiv bebaut, während Vieh und Gerät Privateigentum sind. Im Artel wird nicht nur das Land kollektiv bebaut, sondern gehören auch Zug- und Mastvieh der Genossenschaft und nicht den einzelnen Mitgliedern (insofern steht die spätere Kolchose unter dem Niveau des Artels). In der Kommune gehören selbst die Wohnungen, Hausgärten und Geflügel der Genossenschaft; die Produktenverteilung erfolgt nach dem Gleichheitsprinzip und ist nicht an die jeweilige Arbeitsleistung gebunden. Vom Standpunkt ihrer internen Organisation ist die Kommune also eine kommunistische Vereinigung, während ihre Beziehungen zur Aussenwelt merkantil und bürgerlich bleiben. In der Sowchose geht das gesamte Betriebskapital in die Hände des Staates über, und die Bauern verwandeln sich in reine Lohnarbeiter.

  10. Nicht jedoch, ohne vorher darauf hingewiesen zu haben, dass Stalin in seinem Erzopportunismus so weit gegangen war, angesichts der Unruhen in Georgien die Abschaffung der Nationalisierung des Bodens vorzuschlagen; dies wäre gleichbedeutend gewesen mit dem völligen Verzicht seitens des proletarischen Staates, die Landwirtschaft und deren Entwicklung überhaupt, und sei es ansatzweise, zu kontrollieren. Da Rechte und Linke wie ein Mann gegen diese Position auftraten, machte Stalin sehr vorsichtig den Rückzieher und behauptete, nur Feinde des Sowjetstaates hätten solche Gerüchte überhaupt in Umlauf setzen können!

  11. Auszahlen von 1925 geht hervor, dass die im Privathandel angelegten 900 Mill. Rubel einen Jahresgewinn von 400 Mill. einbrachten, die selbstverständlich für die Entwicklung der Produktivkräfte, um die sich die »Nepmänner« absolut nicht kümmerten, verloren gingen.

  12. Engels hatte seinerzeit die französischen Sozialisten, die »das Kleineigentum schützen« wollten, heftig angegriffen aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der proletarischen Partei auch nicht darin liegt, den Ruin der Kleinbauernschaft zu fördern. Lenin wiederholt die Argumente in seinem »Referat über die Stellung des Proletariats zur kleinbürgerlichen Demokratie« vom 27. Nov. 1918.

  13. Diese These wurde in einem zweibändigen Werk »Die neue Ökonomik« dargelegt, wovon lediglich der erste Band vor dem gesetzlichen Verbot der Linken erscheinen konnte. Dieses Werk wurde bekanntlich erst mit grosser Verzögerung im Westen bekannt.

  14. Allein die Tatsache, dass diese »anderen Kräfte« sich manifestiert haben, zeigt die Richtigkeit der marxistischen Einschätzung Bucharins, der allerdings das Pech hatte, gerade das »vorauszusehen«, was sich erst ein Vierteljahrhundert später ereignen sollte, das aber, was sich unter seinen Augen vollzog, erst in der letzten Minute zu begreifen.

  15. Allein die italienische Linke hat dies aufgezeigt. Die entarteten Schüler Trotzkis, die darin nicht weniger kurzsichtig sind als auf allen anderen Gebieten, rehabilitieren Bucharin nur als vermeintlichen Vertreter der »proletarischen Demokratie«. Wenn man bedenkt, welche Rolle Bucharin gegenüber der russischen Linken gespielt hat (und für die Linke – dies nebenbei – bedeutete der Ausdruck »proletarische Demokratie« lediglich »Verteidigung der Partei«!); wenn man bedenkt, dass er Trotzkis Vorschlag eines Bündnisses der Rechten und Linken, um diese Verteidigung gegen das Zentrum zu sichern, zurückwies; wenn man schliesslich bedenkt, dass Bucharin sehr wahrscheinlich der Autor der Verfassung von 1936 war, eine Verfassung, die Trotzki mit Recht angriff – wenn man das alles bedenkt, dann kann man sich wohl nur noch wundern über die verblödende Macht des demokratischen Vorurteils.

  16. Kompromiss sowohl mit der Bauernschaft als auch in einem gewissen Sinne mit dem Weltmarkt: Lenin war sich der Tatsache sehr bewusst, dass der Weltmarkt Russland dazu zwingen würde, strikt kapitalistische Methoden anzuwenden, und er warnte deshalb vor der Gefahr, die darin bestünde, sich dieser Prüfung zu entziehen – mit anderen Worten sich in die Autarkie zurückzuziehen. Diese leninistische Position verteidigte Bucharin 1925 durch den Kampf gegen die bereits deutlichen autarkischen Tendenzen (die Unternehmensführer forderten »echte Schutzzölle« für die russische Industrie und nicht mehr rein fiskalische), der mit seiner sogenannten »Pro-Kulak-Wendung« zeitlich zusammenfiel. Was die vermeintliche »Radikalität« Stalins angeht, so bedeutete sie das genaue Gegenteil davon: So weit wie möglich völliger Bruch mit dem Weltmarkt und zugleich Zerschlagung des Kulakentums.

  17. So urteilte ein amerikanischer Beobachter der »Zwangskollektivierung«, Calvin Hoover, der 1932 ein Werk über »Das Wirtschaftsleben in Sowjetrussland« schrieb. Dieses Werk entspricht genau jenem bornierten »gesunden Menschenverstand«, den Trotzki in »Ihre Moral und unsere« angesichts derselben Frage zu Recht angriff. Allerdings wurde dieser bornierte Menschenverstand leider nicht von den Gegnern des Kommunismus, wie Hoover, gepachtet, denn wie sonst liesse sich schliesslich die wahre Epidemie von »Abschwörungen« erklären, die zwischen 1927–30 unter den russischen Kommunisten grassierte.

  18. Es gibt absolut keinen Widerspruch zwischen dieser Behauptung und der Tatsache, dass eine proletarische Strömung eine solche Politik kritisiert und bekämpft. Zu den Niederträchtigkeiten des Opportunismus gehört nicht zuletzt der Glaube, man müsse sich vor jeder »geschichtlichen Notwendigkeit« beugen, wenn man sie erkennt. Rosa Luxemburg erklärte sehr treffend in der »Juniusbroschüre«, dass es immer zwei historische Notwendigkeiten im Streit miteinander gibt, eine kapitalistische und eine sozialistische; die kapitalistische mag oft mächtiger sein, unsere hat »einen längeren Atem« und wird sich schliesslich durchsetzen. Den Einwand, der Marxismus stelle sich ein Armutszeugnis aus, wenn er bekennt, die sogenannten »revolutionären Methoden« nicht dort anwenden zu können, wo Stalin sie einsetzte, braucht man nicht einmal zu berücksichtigen, denn für das Kapital kann der Marxismus doch nichts anderes bedeuten als ein Joch; das Kapital muss eine marxistische Politik abschütteln, sie ist für seine Zwecke »unbrauchbar«. Dies nebenbei. Der Marxismus ist die Theorie der sozialistischen Revolution und kein Entwicklungsrezept für rückständige Länder: Dass andere politische und soziale Strömungen sich bei der Erledigung dieser Aufgabe einer jeglichen »Überlegenheit« rühmen können, ist uns absolut egal. Der einzige wirkliche Verrat am Marxismus besteht allerdings darin, dieser Aufgabe eine sozialistische Bedeutung zuzuerkennen, ob es sich nun um die stalinistische Modernisierung Russlands oder um die maoistische Modernisierung Chinas handelt.

  19. Ein guter Beobachter Russlands (wo er sich während der »Zwangskollektivierung« aufhielt) und objektiver Geschichtsschreiber, aber verheerend als Politiker und erbärmlich als Theoretiker, der Stalino-Trotzkist Isaac Deutscher, ruft irgendwo aus, dass er gar nicht mehr wüsste, was eine »soziale Revolution« sei, wenn man die Umwälzung der Produktionsweise von Hunderten Millionen Menschen im Laufe weniger Jahre nicht als soziale Revolution bezeichnen könnte. OK. Die IKP hat niemals bestritten, dass sich in Russland ab 1927 eine kapitalistische Revolution vollzogen hat, ebensowenig dass diese Revolution einer historischen Notwendigkeit entsprach. Aber die Umgestaltung der Landwirtschaft von 1929–30 hat dieser Revolution einen rückständigen Charakter verliehen, selbst vom kapitalistischen Standpunkt aus. Das beweisen alle Zahlen über die bedauerliche Rentabilität der landwirtschaftlichen Produktion in Russland. Diese Zahlen selbst verurteilen die Kolchose, die sogar von einem den Russen wohlgesonnene Beobachter, wie dem Ökonomen Chombart de Lauwe sehr treffend »die abartige Kolchose« genannt wird.

  20. Vorstehender Satz wurde anhand der französischen Vorlage zum besseren Verständnis korrigiert. (sinistra.net)

  21. Auch 1928 weiss Bucharin noch nicht, dass die vereinigte Linke Opposition und Stalin nicht so sehr zwei Fraktionen derselben Partei darstellen, sondern vielmehr zwei verschiedene Parteien, die gegensätzliche Klasseninteressen vertreten, und dass er, Bucharin, derselben Klassenpartei wie die vereinigte Opposition und nicht der Partei Stalins angehört. Er wendet sich daher an Stalin; die stalinistische Fraktion will er überzeugen, weil sie ihm als ein nützlicher Verbündeter erscheint, um einen Sieg der Linken zu vereiteln. Nicht die Auffassungen der Linken über die Parteifrage nehmen Bucharin gegen sie ein, auch nicht ihre Kritik am »Sozialismus in einem Land«, denn seine Übernahme dieser »Theorie« hatte im Grunde nur den Charakter eines politischen Manövers: Berücksichtigt man in der Tat seine eigenen politischen Oberzeugungen einerseits, seine Haltung in der Frage der Autarkie oder Nichtautarkie der russischen Wirtschaft andererseits, so muss man ausschliessen, Bucharin hätte den »Sozialismus in einem Land« beim Wort genommen, und vor allem er hätte die nationalistischen Implikationen dieser »Theorie« geteilt. Was Bucharin gegen die Linke einnimmt, d. h. genau was ihn zum tödlichen Bündnis mit dem stalinistischen Zentrismus verleitete, war seine Überzeugung, der Sieg der wirtschaftspolitischen Auffassungen der Linken würde zu einer völligen Entartung des Arbeiterstaates führen; das ist in der Tat auch durch die »Linkswendung« Stalins geschehen. Es ist aber vollkommen klar, dass, wenn jemand die Warnung – als es noch Zeit war – hätte verstehen können, dann auf keinen Fall Stalin als potenzieller Führer der entstehenden neuen Partei, sondern nur die bolschewistische Linke.

  22. Seit 1921 war die Partei in der Auffassung der Bedeutung des »Bündnisses mit der Bauernschaft« erzogen worden, seit 1923 ausserdem noch in der Überzeugung, dass die »Feindseligkeit gegenüber dem Muschik« eine trotzkistische Abweichung darstelle. So haben die Militanten und selbst die Funktionäre der Partei die Wendung nicht ohne weiteres hingenommen; sie stellten sich vielmehr gegen die Notstandsmassnahmen oder kritisierten sie. Die Repression und die »ideologische Kampagne« gegen sie machte vor nichts halt, und dennoch wurde die Fiktion der Einstimmigkeit des Politbüros bis Januar 1929 beibehalten (waren Bucharin, Rykow und Tomski mitschuldig waren). Im Oktober 1928, mitten im Kampf gegen Bucharin, verstieg sich Stalin noch zur Behauptung: »Es gibt keine Rechten im Politbüro. Wir sind im Politbüro einig und werden es bis zum Ende bleiben«. Unverzeihlicherweise widersprach die Rechte ihm nicht und lieferte die eigenen Militanten seinen Schlägen aus; sie glaubte, Stalins Sturz sei unvermeidlich und werde einen kritischen Augenblick der Revolution darstellen, und sie dürfe sich deshalb nicht von der Führung wegjagen lassen.

  23. Trotzki ist überzeugt, dass der Sieg der Recht endgültig ist und spricht von der »letzten Phase des Thermidor«.

  24. Bucharin war soeben öffentlich angegriffen worden.

  25. notgedrungen, wohl oder übel

  26. Stalin betonte wohl gemerkt den spontanen Charakter der Kolchosenbewegung. Das lieferte ihm ausserdem den Anlass, eine dieser »Theorien« zu fabrizieren, die einen Schlag ins Gesicht des Marxismus darstellen. In einem Artikel vom August 1930 kritisierte Trotzki die stalinistische These wie folgt:
    »Warum lässt sich bei uns, unter den Bedingungen der Nationalisierung des Bodens, so leicht [?! IKP] nachweisen, dass die Kolchose gegenüber dem kleinen Einzelhof überlegen ist? fragt Stalin seine unglücklichen Hörer. Hier zeige sich die grosse revolutionäre Bedeutung der sowjetischen Agrargesetze, die mit der Nationalisierung des Bodens […] gleichzeitig die absolute Grundrente abgeschafft haben sollen.«
    Und Trotzki fährt selbstzufrieden fort:
    »Stalin beruft sich auf den dritten Band des ›Kapital‹s bzw. auf Marx›Theorie über die Grundrente‹ [den Agrarmarxisten – Trotzki meint die Bucharinisten, deren Bündnis mit Stalin er brandmarken will – empfiehlt sich nicht, Blicke zu wechseln, verlegen zu husten oder gar sich unter dem Tisch zu verstecken]; Stalin zufolge soll der Bauer im Westen durch die absolute Grundrente an den Boden gefesselt sein. Wir hätten dieses Tier jedoch geschlachtet, und damit wäre auf einen Schlag die verdammte Macht des Bodens über den Bauern endgültig vernichtet […] Unter den Bedingungen des Handels und des Marktes stellt die Grundrente den Gesamtanteil des Grundbesitzers an dem Gesamtanbauertrag dar […] Von einer wirklichen Abschaffung der absoluten Rente könnte man erst nach der Vergesellschaftung des Bodens auf dem ganzen Erdball reden, d. h. erst nach dem Sieg der Weltrevolution. Der arme Stalin mag sagen, was er will: Im nationalen Massstab ist es nicht nur unmöglich, den Sozialismus aufzubauen, sondern selbst die absolute Rente abzuschaffen […] Die Grundrente kommt auf den Weltmarkt in den Preisen der Agrarprodukte zum Ausdruck. Die Sowjetregierung ist ein Exporteur solcher Produkte, sie verfügt über das Aussenhandelsmonopol und tritt somit auf den Weltmarkt als Grundbesitzer auf […] Ihre Grundrente ist im Preis dieser Produkte enthalten und wird mit deren Verkauf realisiert. Wäre unsere Landwirtschaft auf demselben technischen Niveau der kapitalistischen Länder, dann würde die absolute Rente gerade bei uns in der UDSSR die offensichtlichste und schärfste Form annehmen. Stalin prahlt damit, die absolute Rente abgeschafft zu haben; was in Wirklichkeit geschieht, ist, dass er sie auf dem Weltmarkt nicht realisiert«.
    Und der Grund dafür liegt »in der heutigen Schwäche unseres Exports und in dem irrationalen Charakter unseres Aussenhandels: Nicht nur die absolute Grundrente verschwindet darin spurlos, sondern auch manches andere mehr. Diese Seite des Problems steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Kollektivierung der Bauernhöfe; sie beweist jedoch wieder einmal, dass ein Wesenszug unserer nationalen sozialistischen Philosophie in der Idealisierung unserer ökonomischen Rückständigkeit und unserer Isolation liegt«.
    So widerlegt Trotzki den absurden Versuch Stalins, »eine zwar sehr breite, aber äusserst schwankende und dem Inhalt mach äusserst primitive Kollektivierungsbewegung« für eine kommunistische Bewegung auszugeben. Was den primitiven Charakter dieser Bewegung angeht, so haben wir bereits darauf hingewiesen, dass sie die Flucht eines Tells der Parzellenbauernschaft vor einem im Westen damals nicht mehr bekannten Elend darstellte.
    »Wenn die russischen Bauern« – schreibt Trotzki weiter – »sich von ihrer jeweiligen Scholle relativ leicht trennen, so hat das nichts damit zu tun, sie hätten sich durch das neue Argument Stalins überzeugen lassen, demzufolge sie von der absoluten Grundrente befreit worden seien; sie werden vielmehr von denselben Ursachen getrieben, die vor der Oktoberrevolution periodische Umverteilungen des Bodens hervorriefen
    Mit anderen Worten, sie konnten sich keiner Differenzialrente erfreuen. Diese wird erst von den landwirtschaftlichen Betrieben realisiert, die eine maximale Rentabilitätsstufe erreicht haben. Gerade diese Differenzialrente erklärt auch die konservative Haltung der ländlichen Kleinbesitzer Im Westen, deren Bindung an den eigenen Hof im selben Verhältnis wie die akkumulierten Arbeits- und Geldausgaben seiner Vorfahren und seiner selbst wächst. Im Gegensatz zu seinen degenerierten Schülern idealisierte Trotzki also keineswegs die Kolchosenbewegung, sondern erkannte als Marxist vielmehr deren rückständigen Charakter.

  27. Ein amerikanischer Zeuge der »beschleunigten Kollektivierung« schrieb 1932:
    »Eine Gruppe von 25 000 Arbeitern wurde gebildet, um die neuen Kollektivhöfe zu organisieren. Um diese Gruppe zu stärken, mobilisierte man mit allen Mitteln so viel Stadtbewohner wie möglich, um sie ins Dorf zu schicken. In Moskau wurden die Studenten der Musikhochschulen mobilisiert, um die Kulturrevolution in die Kolchosen zu tragen; Ärzte und Krankenschwestern wurden den Moskauer Kliniken und Hospitälern entzogen, um die Kolchosen medizinisch zu versorgen; eine wachsende Anzahl Lehrer […] Agronomiestudenten wurden mobilisiert. Die Bauern neigten dazu, alle Leute, die von der Stadt kamen, als Agenten der Sowjetregierung zu betrachten […] In den Gebieten, die von nationalen Minderheiten bevölkert waren, führten aufständische Bauern Jagdzüge gegen die Russen und ermordeten sie alle, ohne Rücksicht auf deren politischen Standpunkt. Um sein Leben zu retten, musste jeder Städter, der ins Dorf geschickt wurde, sich in einen Soldaten der kommunistischen Sache verwandeln« (der Autor ist kein Marxist und weiss überhaupt nicht, was »kommunistische Sache« ist: Damit bezeichnet er die Regierungsoffensive, IKP).
    »[…] Viele Arbeiter, die von den Städten gekommen waren, um die Kolchosen zu führen, wurden ermordet. Die Regierung liess solche Geschichten nur selten in der Presse erscheinen, und so flüsterte man sich die schrecklichsten Gerüchte ins Ohr über Folterungen von Arbeitern durch Bauern […] und viele Gerüchte über Bauern, die nachts die Arbeiterhäuser umstellten und in Brand steckten.« (Calvin Hoover, »Das Wirtschaftsleben in Sowjetrussland«, zitiert nach der französischen Ausgabe).

  28. Hoover erzählt im zitierten Werk: »Insbesondere hat es Aufstände gegeben im Nordkaukasus, in den kleinen Republiken der kaukasischen Föderation, im Turkestan und selbst im Gebiet von Riazan, einige Stunden von Moskau entfernt. Diese Meutereien erfolgten im allgemeinen in den von nationalen Minderheiten bevölkerten Gebieten, wo die Tradition der bewaffneten Verteidigung der Freiheit noch lebendig war und das Gefühl der nationalen Solidarität es verhindert hatte, die Biedniaki für die Sache der Kollektivierung zu gewinnen; sie beschränkten sich aber nicht auf diese Gebiete.«

  29. Es soll einen Fall von Gehorsamsverweigerung in der Armee gegeben haben, nachdem befohlen worden war, auf Bauernmassen zu schiessen. Deutscher schildert andererseits die Verwirrung eines GPU-Offiziers, den er in dieser Zeit in Russland getroffen hat: Es handelte sich um einen alten Militanten aus der Zeit des Bürgerkrieges von 1918–21, der »über die jüngsten Erfahrungen auf dem Lande völlig verzweifelt war.« Dieser Gemütszustand dürfte kein Einzelfall gewesen sein.

  30. Jurij Lutowinow (1887–1924), Parteiname »Iwan«, war ein bolschewistischer, aus einer Bauernfamilie stammender Metallarbeiter, während des zaristischen Systems mehrfach verbannt. 1915 wurde er von der bolschewistischen Partei in den Donbass versetzt, er war dort Gewerkschaftsaktivist. Auf dem ersten Kongress der Kommunistischen Partei der Ukraine im Juli 1918 wurde er zum Mitglied des Zentralkomitees gewählt. Teilnehmer am Bürgerkrieg, danach wurde er ein aktiver Vertreter der Gewerkschaftsbewegung, wurde zum Mitglied des Präsidiums des Allrussischen Gewerkschaftsbundes (WZSPZ) gewählt, war Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes der Fernmeldearbeiter. In den Jahren 1920–1921 war er einer der Führer der »Arbeiteropposition«, die sich für eine kollegiale Verwaltung der Industrie einsetzte. 1921 wurde er ins Ausland entsandt und arbeitete als stellvertretender Handelsattaché in Berlin. Im Dezember 1923 nach Moskau zurückgerufen, war Lutovinov auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei im Januar 1924 eine einsame Stimme, die sich für den Schutz der Löhne in der Industrie einsetzte. Enttäuscht von der NEP und der zunehmenden Bürokratisierung der Partei, erschoss er sich am 7. Mai 1924. (sinistra.net)

  31. Jewgenija Bogdanowna Bosch (1879–1925), deutsch-russische Revolutionärin, Tochter eines Gutsbesitzers in der Gegend um Cherson (Ukraine), seit 1901 Mitglied der SDAPR, auf der Seite der Bolschewiki. 1909 wurde sie Mitglied, im Februar 1911 Vorsitzende des Kiewer Komitees (Ortsgruppe) der SDAPR. 1912 verhaftet und in Verbannung nach Sibirien geschickt gelang ihr von dort 1915 die Flucht, gelangte in die Schweiz und später nach Norwegen. Nach der Februarrevolution 1917 kehrte sie nach Russland zurück und gehörte dem Kiewer Komitee der SDAPR und dem Kiewer Stadtsowjet an. Im Dezember 1917 wurde sie auf dem I. Allukrainischen Sowjetkongress zum Mitglied des Zentralexekutivkomitees (ZIK) der Ukraine gewählt. 1918 schloss sie sich in der Frage des Friedensvertrages von Brest-Litowsk den »Linkskommunisten« an, die jegliche Friedensverhandlungen mit den »imperialistischen Mächten« ablehnten. Ab 1920 arbeitete sie in Moskau beim Zentralkomitee der Allrussischen Boden- und Forstgewerkschaft. Seit 1923 stand sie der »Trotzkistischen Opposition« nahe und unterzeichnete die »Erklärung der 46«. Da sie an Tuberkulose und einer Herzkrankheit litt nahm sie sich wahrscheinlich eher aufgrund ihrer unheilbaren Krankheit 1925 in Moskau das Leben. (sinistra.net)



Source: »Kommunistisches Programm«, № 15/16, Oktober 1977, S. 75–90 (Zweiter Teil des III. Kapitels: »Die sowjetische Wirtschaft vom Oktober bis heute«)

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